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The Beer Hunter

“Die drei an Tisch 6 haben ihr Essen eher bekommen als ihre Getränke.” Seitdem Lloyd innerlich Abschied genommen hat vom Absud nimmt er die Unzulänglichkeiten seines Personals lediglich amüsiert zur Kenntnis und kommentiert sie mit staunenden Kinderaugen. Er hat mit seinem Baby abgeschlossen, Halloween noch mitnehmen, dann ist Schluss. Gemäß der Einteilung der Trauer in Phasen nach Kast befindet er sich in Phase IV. Dementsprechend hat er sich das Süßigkeitenfressen nach dem Kiffen abgewöhnt. Der Mann mit Prinzipien und Strothmann warten seit einer halben Stunde auf ihr nächstes Weizen und beobachten während sie Lloyd zuhören die Wanderschaft der Riesenameisen in den Schluchten der Skyline aus nicht abgeräumten Gläsern auf dem Tisch, sechs an der Zahl, kreisrund angeordnet wie die Patronenlager eines Revolvers. “Wie macht sich der Neue in der Küche?” erkundigt sich der Mann mit Prinzipien, während er konzentriert und bedächtig sein Lungentorpedo im Aschenbecher austupft, mit dem introvertierten Gesichtsausdruck und dem leicht gesenkten Kopf eines betenden Priesters. Friede Deiner Asche. “Total hilfsbereit und freundlich. Findet die Deutschen gut weil er Hitler für die Befreiung Bangladeshs von der Herrschaft der Briten verantwortlich macht. Hab ihm empfohlen diese Deutung lieber für sich zu behalten.” “Bin mal gespannt auf die Spiegeleier”, unkt Strothmann, “bisher sind hier noch alle Asiaten in der Küche an Sunny Side Up gescheitert.” “Bestimmt irgendein atavistischer Widerstand gegen das British Empire.” Strothmann hatte schon lange keine Bratkartoffeln mit Spiegeleiern mehr. Weil er abnehmen will ohne aufs Saufen zu verzichten isst er weniger und säuft mehr. Während er auf sich selbst und sein Verhalten so gut wie keinen steuernden Zugriff hat funktionieren seine Zwangsneurosen und Süchte 1a. Die sind zuverlässig und immer da, treue Begleiter, gegen deren innige Beziehung zu ihm keine Partnerschaft und keine Freundschaft eine Chance hat. Der Mann mit Prinzipien fragt: “Will ich jetzt überhaupt noch n Bier?” und sieht Strothmann aus treuherzigen Glubschaugen hinter riesigen Brillengläsern an, was Strothmann an den Maulwurf aus den Simpsons erinnert. Lloyd mischt sich ein: “Wenn Du eine zweite Meinung einholen möchtest: hier steht der Fachmann.” “Ja klar,” entgegnet der MmP, “man nennt Dich auch den Joda des Durstes.” Lloyd schmeckt den Vergleich auf der Zunge ab und findet ihn gar nicht so misslungen. Strothmann insisiert: “Du willst immer noch n nächstes Bier. Deswegen verabschiedest Du Dich immer traurig. Freunde der Nacht mit gepresster Stimme.” Strothmann braucht keine Freunde, sondern Co-Alkoholiker, die Kette rauchen und morgens ihren Kater am Schreibtisch pflegen. Hollahe geht es auch heute Nacht weiter bis in die Puppen, man schwadroniert über Schwäbisch Uganda, Brad Pitt and the Pendulum, auf die Klitoris gezüngelte Gedichtzeilen von Walt Whitmann, ungeschützten Geschlechtsverkehr in Wackel- pudding, über schwarze Berliner Weiße mit Johannisbeersirup, über Ernährungs- wissenschaftler die mit Basilikum Laude promovierten, über Frauen mit kurzen Röcken, weißen Waden und Mückenstichen, über Anorektikerinnen, die ihren Hunger durch Verschlucken der Kugel ihres Zungenpercings bekämpfen. Das geht so bis drei Uhr morgens, wenn sich um den runden Tisch im Zentrum des Biergartens die letzten Gäste und das Personal zur Apres-Schicht-Seance zusammen rotten, Strothmann mittendrin, blau wie eine Haubitze und mit einem Arbeitsgerichtstermin am frühen nächsten Morgen vor der Brust. Ist ihm jetzt Wumpe, wird ihm auch Wumpe sein, wenn er gleich noch als letzter am Tresen sitzt und anschließend schwule Schachspieler in den Shop begleitet. Von Zigaretten und den kleinen Schnäpsen, Fiffis ihrer 0,5-Liter-Herrchen, hat er Halsschmerzen. Herzrhythmusstörungen hat er so oft, dass die Störung der Normalfall ist und die Regelmäßigkeit eine Rarität. Nachts wacht er in kalten Schweiß gebadet auf, akute Panikattacken, Atemnot, Herzrasen. Er redet sich ein, dass er nur deswegen säuft und raucht, weil er diese Symptome als kurzzeitige Effekte des Betäubungsmittelmissbrauchs interpretieren kann und Angst hat, es könne ihm genau so gehen wenn er es bleiben lässt, aber wie jeder Junkie weiß er tief in seinem verlandeten und versandeten Inneren, dass er sich selbst betrügt…die dritte Phase der Trauer nach Spiegel, das trifft es eher, wenngleich auch das nur die bessere Ausrede ist. Am nächsten Abend tut er was für seine Gesundheit und schwänzt einen Yoga-Kurs.