Woanders
Der abgebrannte Sommelier säuselt beschwippst Paranoia:
“Das mit der Energiewende hat die Merkel damals nur gemacht um die
französischen Energieunternehmen zu subventioneren. Fukushima kam
grade recht, damit Frankreich in der Euro-Krise nicht das nächste
Siechenland wird. Der französische Atomstrom, den Deutschland kauft
haut die Franzmänner raus.”
Strothmann war ganz weit weg, erinnerte sich an eine Weinprobe im
Zecher, die sich zur exzessiven Weinverkostung auswuchs und in einem
Streitgespräch mit einer Unternehmerin mündete, deren Augen in der
Hitze der Debatte über die Notwendigkeit von Führung und aufgrund
zunehmend erweiterter Gefäße zu glänzen begannen wie Zwiebeln in der
Pfanne.
“Beweis mir das!”, forderte sie ihn ultimativ auf, er wich stammelnd aus,
er könne das nicht endgültig beweisen, es sei lediglich eine Theorie, die für
wahr zu halten ist bis zu ihrer Falsifizierung, damit wollte er ablenken, Zeit
gewinnen, weil ihm komplett entfallen war welche Behauptung er überhaupt
aufgestellt hatte. Sie wandte den Blick ab, schüttete sich einen zum wieder-
holten Mal allerletzten Schluck Rose ein, und schloß ihn im Folgenden aus dem
Gespräch aus, das sie nur noch mit Likörchen, dem Wirt führte: “Bei Schoppen
denke ich jetzt nich mehr an Kaufen, nur noch an Saufen…”.
Als er aufstand um zu gehen beteuerte sie: “Ich wollte Dich nicht vor den Kopf
stoßen!” Das Gefühl von Scham und Schwäche verwandelte Strothmann in eine
zechprellende Furie des Verschwindens. Nichts wollte er von sich hinterlassen,
er wollte so gründlich verschwunden sein dass er niemals für jemanden existiert
hat.
Die Gründe niemals existiert haben und spurlos verschwinden zu wollen lassen sich
auf zwei Extreme der Peinlichkeit reduzieren:
- man wird zugetextet und ist zu konfliktscheu um sich dem zu entziehen.
Da will man sich nicht exponieren und es mündet in der Unfähigkeit sich zu erheben,
also im exakten Gegenteil des eigenen Wunsches.
- man textet selbst jemanden zu, und merkt zu spät, dass man sich um Kopf
und Kragen redet.
Da glaubt man sich exponiert zu haben und erst der grußlose Abgang ist das
peinliche Ereignis (soziales Downrating).
Morgen ist Strothmann woanders. Mit dem Rad unterwegs. Zu einer Idylle am
Kanal, eine bewirtschaftete Terasse am zu einem Teich aufgestauten toten
Arm des Kanals. Da lullt ihn das Plätschern des Frischwassers ein, das sich im hohen
Männeken-Piss-Bogen aus einem Schlauch in den See ergiesst…sieht er fasziniert den
Wasserläufern zu, die ruckartig über die Wasseroberfläche flitzen wie flach geworfene
flache Kiesel…ihre Beine produzieren elliptische Bugkiele, die interessanter Weise zu
kreisförmigen Wellen interferieren, die sich konzentrisch absetzen…Stunde um Stunde
bis die feine Matrix der Interferenzen von einem kenternder Einer ruiniert wird, dessen
Skiffer unter dem Gelächter und den schadenfrohen Bemerkungen des Publikums
(”Mann, Du skiffst doch!”) zahllose vergebliche Versuche unternimmt,
wieder in sein Boot zu gelangen…drüben am anderen Ufer ein Haus mit Garten, eigenem
Anlegesteg, einer grün gestrichenen Leiter die ins Wasser führt, ihre Stege vom
Licht unter Wasser als gezackte Wellenlinie weitergeführt…in der Luft der Geruch
von gegrilltem Hüftsteak mit Chilisauce und ein leichter Kokoshauch von Sonnenöl…
an einem über den kleinen Teich gespannten Kabel hängt eine silbrige Discokugel, und er
denkt: das Universum ist eine Discokugel, und dass er mit dieser Erkenntnis den
Wiederspruch zwischen einer körnigen und einer glatten Raumzeit auflösen kann…
Nichts von alledem geschieht. Mit einem schlechten Gewissen wird er beim Fernsehen
immer mal wieder auf das Fahrrad starren, das auf dem Balkon wartet. Das Wetter
ist perfekt. Er verlässt die Wohnung erst um ins Absud zu gehen.
“Die Energiewende ist eine blanke Lüge!”
Das nimmt Strothmann, der nicht die Kraft hat vor Erreichen der Sperrstunde aufzustehen,
persönlich.