Blond Faith
Sein Erzeuger hatte ihm vor allem gehaltvolle Erzeugnisse hinterlassen.
Seitdem ist der Chronisthocker von alkoholischen Getränken umzingelt in seiner
zur Abstellkammer für Spiritousen degenerierten Wohnung. Erst hatte es
noch einen angenehmen, blasphemischen Schauer erzeugt zu Pommes
offenes Bein und C-Wurst Armagnac zu schlürfen, der noch vor Erfindung
der Atombombe und weit vor der Geburt seines Vaters gebrannt wurde:
“Dies ist der Heilige Geist, abgefüllt für den Sohn, noch bevor der Ursprung
meines Vaterkomplexes überhaupt existierte.”
Das Wohnzimmer hatte sich in ein Kuriositätenkabinett verwandelt, in dem sich
aus Fichtenrinde gebrannter Trester und Grappa aus Stechäpfeln fanden.
Das Kuriositätenkabinett verselbständigte sich allerdings zunehmend
zu einem Konkurrenten um Wohnraum, weil sich die Bestandteile mit tribblehafter
Fortpflanzungsrate schneller vermehrten als er sie austrinken konnte.
Kein Tag verging an dem er nicht einen neuen mit
ätherischen Flüssigkeiten gefüllten Dekanter oder eine weitere an
eine Fliegerbombe erinnernde Flasche aus Ton entdeckte, auf
deren Etikett ein Metzger auf einem Schwein ritt. Wachte er nachts
von einem leisen Klirren im Wohnzimmer auf konnte er im Mondlicht die
schattenhafte Geburt weiterer Flaschen beobachten, die ruckartig aus
dem Parkett wuchsen wie die lebenden Steine in Jack Arnolds Film.
Hatten ihn die skurillen Etikette und Weinnamen (Rügenwalder Hupfdohle)
erst noch amüsiert fühlte er sich zunehmend belästigt statt belustigt
durch die Fratzen von besoffenen Winzern und die Etikettbeschriftungen,
die ihn in die 50er-Jahre zurückkatapultieren wollten, in eine Zeit, in der
er nicht existierte und in der man vor allen Dingen seine Existenz hätte
verhindern können.
Weil er außerstande war etwas wegzuwerfen und auch außerstande war
dazu Hilfe anzunehmen konnte er dem bunten Treiben kein Einhalt gebieten.
Als die Armee der Gesöffe den Blick auf den Fernseher verstellten ergriff
er die Flucht.
Wie befreiend ist doch das Betreten einer leeren Kneipe. In der Rostrutsche
hielten sich nur Likörchen, der Wirt, und ein Fotograf auf, der sein Model
anheizte:
“Komm, Baby, gibs mir, still meinen Durst.”
Das Biermodel war ein Modell-Pils, po(e)s(t)ierte souverän im Halo einer Deckenlampe
auf einem runden Kneipentisch, von Likörchen immer mal wieder aufgehübscht durch
Nachbessern der Schaumkrone, wozu der Fotograf - darauf bestand der Hausherr -
immer einen Schluck abtrinken musste; nimmt nicht Wunder, wenn er mit keiner
Aufnahme hundertprozentig zufrieden war, Kameraeinstellungen und Aufnahme-
winkel variierte bis er so breit war wie die Legionäre in “Asterix
bei den Briten”, die ein Fass voll Zaubertrank in einem Spalier von Weinfässern
finden sollen.
Es war angenehm kühl in der Rostrutsche, ein Klima fast wie in einem Weinkeller,
inklusive des leichten Modergeruchs, in einigen Stunden überlagert von ergiebigem
Qualm, der am nächsten Morgen einige Erwerbstätige, die zu spät dran waren
und sich in die Klamotten vom Vortag überstürzten, in eine Aura aus Verbrennungs-
rückständen hüllt. Der Mummenschanz in der Wohnung, die er geflohen war,
verstellte nicht nur Laufwege und Stellflächen, er heizte seine Umgebung auf.
Nachts glühten die Gefäße der Weingeister grün und rot, und obwohl sich die
Flaschen temperaturneutral anfühlten - angepasst an die tatsächliche
Raumtemperatur - verbreiteten sie in der Wohnung eine stickige,
staubige Hitze wie in einem Heizungskeller.
Die Übersichtlichkeit der Kulisse, die leeren Platten der robusten, runden Stehtische,
die schlichte Anmut des Modellbieres, die prickelnde Homogenität des hellen Blonden,
das spartanische Design der indirekt beleuchteten Wodkaflaschen, deren glasklarer
Inhalt leicht bläulich luminszierte und die kühle Atmosphäre verstärkte - was für eine
Wohltat.
Der Chronisthocker fühlte sich wie Monk, dem man einen Aufenthalt in einem hellen,
schalltoten Raum ohne Einrichtungsgegenstände zum Geburtstag geschenkt hatte.
Konsequent seine Order: “Likörchen, mach mir mal n Korn.”
Lange hatte die Idylle nicht Bestand. Der besoffene Fotograf stellte klar:
“Ich bin doch kein Rassist!”, bestellte ein Köstritzer und ruinierte das spartanische
Arrangement von Licht, Rundtisch und prickelndem Kelch durch sukzessive Beistellung
weiterer Getränke, die er nach und nach verschüttete.
Neben ihm nahm der Zapfer aus dem “Cafe Zecher” Platz, der sich vor seiner
Schicht eine alkoholische Grundlage in die Hirse pumpen wollte und auf ihn
einredete:
“Wie empfindest Du das jetzt mit dem Tod Deiner Eltern?”
Der Chronist vermochte das Unheil nicht mit dem flappsigen Hinweis abzuwenden:
“Muß dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke besorgen.”
“Das ist es was ich meine. Du stehst unter Schock. Diese Gefühlsarmut. Ich
kann Dir nur raten, mach ne Therapie.”
Der Zecher-Zapfer rückte ihm auf die Pelle, halb stützte er sich auf seine
Schulter, halb umarmte er ihn und lallte ihm ins Ohr: “Ich mach so was auch und
ich kann Dir nur sagen, es hilft. Dir entgeht wer Du bist und wer Du sein könntest,
wenn Du das nicht aufarbeitest. Und es täte mir leid wenn Du Dein Potenzial
nicht entwickelst weil Du traumatisiert bist.”
Der Chronisthocker wirft verstohlene Blicke auf den Monitor, der über den Köpfen des
Publikums im Raum zu schweben scheint und eine Großaufnahme von Götze(!)
zeigt. Er ärgert sich dass ihm die Pointe einer Geschichte entgeht, die zwei
Altchauvis neben seiner anderen Flanke erzählen, und die irgendetwas damit zu
tun hat, dass ein Porschefahrer seiner Frau eine Waage schenkt, damit sie auch
mal ein Gerät hat, dass in 3 Sekunden von Null auf hundert kommt.
“Du bisn netter Typ, aber du bis…Dein Geist is klar, aber Deine Seele is verwirrt…
Du mus einfach krank sein bei nem Vatter der seine Heimat im Wald raufbeschwört
in dem er Trester aus Baumrinde säuft…und Du gehs scheiße mit de Menschen um
die Dich mögen und die Dir nahe stehen weil Du Dich grundsätzlich bedrängt fühlst”.
Die Packungsdichte im Schankraum nimmt rapide zu, Toilettengänge gleichen
Autoscooterfahrten, er fühlt sich wie ein Extraball im Inneren eines
Flipperautomaten, kreischende Gesichter fahren um ihn herum Karussell, bis die Kneipe
nicht mehr von seiner Wohnung zu unterscheiden ist. Der Unterschied: es geht
ihn nichts an, er nimmt es teilnahmslos zur Kenntnis wie das betäubte Menschenopfer
an einem Totenpfahl, zu dem der Lärm, der Wirbel und die Extase des Beschwörungs-
tanzes nur wie durch Watte dringen. All diese Masken…wären sie doch wenigstens
exotisch, statt ferne Erinnerungen an längst vom Schädel geflossene Antlitze aus
den Eckkneipen seiner Kindheit. Dämonen sind immer alte Bekannte.
Drinnen der Ascheregen, draußen dichter Schneefall.
Am übernächsten Morgen ist er der einzige Gast im Frühstückssaal eines Hotels in
Bierlin. Im Hintergrund läuft eine Radiosendung, in der eine ehemalige NPD-Abgeordnete
beschreibt, wie sie in den Schoß der Katholischen Kirche fand. Vor ihm auf dem Tisch
Weihnachtsdeko und ein Display auf dem steht: bei uns müssen Sie auf nichts verzichten
bis auf das Rauchen. Auf einer Serviette steht: Inspiration can hit you at anytime
und er ergänzt: wie ein Schlaganfall, schreibt es aber nicht hin.
Ein gräßliches Gefühl eigener Unfruchtbarkerit und die Gewissheit eines unmittelbar
bevorstehenden Abschlusses verderben ihm den Appetit.
Er sehnt sich nach dem Schnee von gestern.