Barlett
Der Wechselbalg schüttet sich aus einer Glaskaraffe gesalzene Erdnüsse in den Rachen.
Da er in seinem Leben etwas ändern wollte hatte er die Kneipe gewechselt.
Der Laden war nicht Retro, der war Präretro, eine von dunklem Holz dominierte Eckkneipe,
wie er sie aus Kneipenbesuchen mit seinem Vater kannte, von denen seiner Mutter
nichts erzählt wurde. Er wußte damals noch nichts von der Alibifunktion des Sohnes,
von der väterlichen Lüge einfach mehr Zeit mit seinem Stammhalter verbringen zu wollen.
Statt ihn zum Schwimmtraining zu begleiten, wo er den Untergang lernen
sollte, landeten sie im Kupferkessel wo der Vater sich so zulötete, dass er den Spatel für
die Heiermänner des lokalen Sparvereins immer in die falschen Fächer einführte, was ihm
natürlich keiner von den Gästen steckte. Zu der Zeit war sein Vater 20 Jahre jünger
gewesen als er jetzt, er hatte das Gefühl beim Rückwärtsreisen in der Zeit rapide zu altern.
“Is ja klar”, konstatiert der Banker neben ihm, aber nicht etwa in Bezug auf den Korn, den
er grade gekippt hatte, sondern auf die Uhr über dem Eingang, deren Stundenzeiger
sich aufgrund eines technischen Defekts so schnell wie ein Sekundenzeiger drehte,
“kaum hab ich die Schippe aus der Hand gelegt kann ich schon wieder zur Maloche,
nur weil die Zeit hier so schnell vergeht.”
“Was soll ich sagen”, entgegnet die Bedienung hinterm Tresen, “ich sag grade
Letzte Runde an und kann den Laden gleich schon wieder aufmachen.”
Zeitreisen sind nicht nur möglich, sie sind hier unvermeidlich.
Mit dem Unterschied, dass sich die Gäste und die Tresenmannschaft zwar im Rumpf
desselben im Niemandsozean verschollenen Schiffes befanden, aber sich für ihn die
Zeiger der Uhr rückwärts drehten während er alterte. Den anderen lief die Zeit zwar
auch davon, aber dies wenigstens in die richtige Richtung.
“Warst Du eigentlich im Urlaub?”, fragt der Banker ohne ihn anzusehen, “Siehst so
entspannt aus. Hast auch Farbe bekommen.”
Der Wechselbalg zündet sich eine Kippe an und bestellt zwei Jägermeister.
“Ne. Das ist mein gesunder Lebenswandel. Viel Sport, kein Alkohol und keine Fluppen.”
“Ja, da kennt man Dich für. Was macht die Liebe?”
Das erste Mal in meinem Leben im Ballett gewesen. Das Spechtklopfen der
Fusspitzen auf der Bühne hämmerte in seinem Kopf, hätte er sich nicht so laut
vorgestellt. Nach dem ersten Akt suchte er Stille und Abgeschiedenheit.
Die Stille jenseits der Inszenierung, die sich in den weiten, menschenleeren Fluren
des Theatergebäudes ungehinderte ausbreitete, wurde nur durch ferne Minimalmusik
gebrochen, das Klirren von Sektgläsern, die vom Barpersonal eingesammelt wurden,
manchmal Applaus, der wie das Echo des Regenschauers in einer Parallellwelt klang,
die ihn in Ruhe ließ, im Moment so weit entfernt war wie ein anderer Planet.
Kein Lärm, kein Hindernis des Blicks. Das war sein Reich, ein Vakuum mit
einigen minimalen Zeichen von Anwesenheiten in einiger Distanz, aber auch das
Signale von Menschen die sich entspannten, weil ihre Arbeit getan war, die sie in den
Pausen der Inszenierung komprimiert verrichteten. Er sass in einem anonymem Sessel,
hatte alle Sitzgelegenheiten (ein in sich widersprüchlicher Begriff) für sich,
unaufdringliche Angebote sich ungestört und unbedrängt niederzulassen.
Ansonsten ein soziales Vakuum, das vorübergehend sein Reich war,
ohne dass er herrschen musste. Es gab nichts zu sagen, er musste nicht zuhören.
Das Klopfen kleiner Feiglinge auf dem Tresen.
“Na los, Alter, lass uns ne Runde schocken.” wurde er gedrängt.
Bin schon geschockt dachte er, war aber zu erschöpft dem Gruppenzwang etwas
entgegen zu setzen.
“Alle Würfe können zusammengesetzt werden. Schock, Straße, Jule, egal.”
Es ging nicht um Verlieren und Gewinnen. Es ging um Druckbetankung. Zu müde sich
zu wehren schätzte er Wahrscheinlichkeiten ab, während die “Rostrutsche” sich
rapide mit Lärm und Krakele füllte, bis er darin unterging.
“Das ist Musik hier die bringt die Verhältnisse zum Ranzen.”
Es laufen die Beatles. Er redet ohne es zu merken, erzählt, dass er die Innenstadt
nur noch mit drei Begriffen vermisst, Krebs, Rollator und Montagsdemo,
erzählt von der Buchhändlerin bei der er ein Buch über Quantenphysik bestellt hatte,
die fragte: warum will eigentlich jeder der in letzter Zeit ankommt Bücher
über Quantenphysik? und ich sach so: weil so viele Big Bang Theory gucken
und denken das ist genau so lustig. Guckt die mich an wie nen Wolkenatlas,
verstehst Du? Bei Cloud Atlas sehe ich immer nen Antiquar vor mir der nen
Atlas klaut, das Interesse an Quantenphysik entspricht einfach der zunehmend
wichtigen Rolle des Beobachters in der Medienwelt.
“Ja, is ja sehr interessant, aber jetzt würfel doch mal, und wenn wir beide
jetzt wieder genau das gleiche würfeln und ich leg nach dann hau ich Dir
auf die Fresse.”
Er kannte den Typen gar nicht der das sagte. Der grinste schalkhaft als er
das ankündigte, hatte was vom Sänger von Right Said Fred. Dass der Wechselbalg
dann wirklich auf die Fresse bekam lag daran dass er ihm das steckte,
und der fragte gar nicht gegen:
hältst Du mich für ne Schwuchtel?
sondern ballerte ihm sofort eine. Dann tanzten sie Pogo bis der ganze Laden
nicht mehr existierte, eine Phantasmagorie war, die das gesamte Ensemble mit sich
riss in eine Gegenwart ohne Erinnerung. Schattengirlanden. Schock aus.
Aus dem Nirgendwo eine Stimme: heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder
keine Frage.
“Wohin gehts?” fragte der Taxifahrer, und konnte mit der Antwort nix anfangen:
“Reparieren Sie die verdammte Uhr sonst feier ich meinen Geburtstag woanders.”
“Alles klar”, nickte der Fahrer, und drehte so lange Runden um den Ring bis
dem Wechselbalg der Name seiner Stammkneipe einfiel.