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Neutrinkos

“Nett zu sein ist was für Twens…” “Ach ihr schon wieder…” Bier, schon wieder. Hier, schon wieder. Seine Firma steht auf der Kippe, bald auf der Müllkippe. Er und seine Spaßgesellen haben sich einen Palast gebaut, dessen großzügige Ausstattung die Unprofessionalität der Prozesse und das unordentliche Miteinander jetzt erst recht gnadenlos zum Vorschein bringt. “Du mußt Dir das so vorstellen…”, erklärt Perreira, der nur wegen dieses Buchzitates jetzt so heißt, “…als ob Du aus der dritten Liga in die Champions-League befördert wirst, alles ist ein paar Nummern zu groß und zu gut, und dadurch fällt Dir auf was für eine kleine, unfähige Nummer Du bist…” “…ich verstehe was Du meinst, ich bin Fan vom VFL Osnabrück…”, greift der Rentner, der keiner ist, auf eine der Routineantworten zurück, auf die er sich verlassen kann, wenn er weghört und an etwas völlig anderes denkt als an das Thema, das ihm sein Gesprächspartner anbietet, ohne dass ihm die Aufdringlichkeit seines Angebotes in den Sinn kommt. Der Rentner heißt Skellington, spukte schon vor fünf Jahren durch die Bioroglyphen und befindet sich nach mehreren Jahren Sendepause beim Relaunch immer noch schon wieder an seinem Platz, wie ein Cowboy im Sattel auf einem lange Jahre stillgelegten Karussel, das leiernd und ächzend wieder in Betrieb genommen wird. Dass er jetzt das label “Rentner” verpasst bekommt liegt daran, dass ihn eine Situation beschäftigt die er letztens hier erlebt hat: da spricht der Makker von La Trulla mich an und sacht, ei, und was machst Du, bist Du Rentner, ein Typ der älter ist als ich und ich musste an mich halten um nicht das zu tun, was ich ihm sagte, nämlich Ich hau Dir in die Fresse, und jetzt ärgert es mich, dass ich darauf so abgegangen bin, was reg ich mich darüber so auf, und jetzt geht die Anekdote querbeet durch den Salon…das ist es woran Skellington denkt, während er versonnen und mit einem feinen Lächeln auf den blassrosa Lippen vor sich hin in das Niedrigwasser seines letzten Jevers starrt, dem weitere Letzte folgen, ist ja nur ein Schluck. “Übrigens Skell…”, bricht Perreira seinen Monolog ab, “…was hältst Du davon Dir mal nen Hut zu kaufen?” Perreira heißt noch nicht Perreira, seine Company geht aber auch eben schon den Bach runter. Und während die Bäume lange vor Advent brennen denkt er nur daran, wann er endlich abhauen kann ins “Zecher”, wo er die Zeit bis acht überbrücken kann, weil erst 2 Stunden nach Öffnung sicher ist, daß das Gespenst des Absinth sich verflüchtigt, eine nach feuchtem Hund müffelnde Kaffeetante, die früh kommt und wieder verschwunden ist, noch während ihre Duftnote sich im Schankraum ausbreitet. Das ist der einzige Gedanke der ihn treibt. Nicht die Vermeidung der Pleite, die Rettung aller Arbeitsplätze (seinen inklusive) sondern: wann kann ich endlich in die Kneipe? Keinerlei Vorfreude darauf, im Gegenteil: Bedauern, aber - wann kann ich endlich in die Kneipe? Wo der oben angeführte Kurzdialog stattfinden wird. Erneut und erneut in geringfügigen Variationen, die Zeit ein aufgeklapptes Alibert-Spiegelschränkchen, in dessen Triptychon-Flügeln Spiegelungen sich spiegeln und spiegeln und spiegeln…der Süchtige kann in die Zukunft sehen, er weiß immer was geschieht und kann es nicht verhindern, denn dann geschieht es ja nicht. In glücklicheren Zeiten, erzeugt durch die Erinnerung an sie (an Sie?) hatte er mit Biergitta abends in einer Fischer-Bar gesessen, in einem Holz-Tipi am Rand einer Steilküste, unweit eines Felsens mit dem Seitenprofil von Nick Knatterton (ohne Pfeife). Sie knackten Pistazien, sahen im Fernseher Bilder eines Waldbrandes, dem Unmengen von Korkeiche zum Opfer fiel…er erinnert sich daran den ganzen Abend den Eindruck nicht los geworden zu sein, dass jemand sie beobachtet. Damals gab es noch kein Twitter und facebook, kein iphone und kein Youtube, die Technologie der Gedankenübertragung steckte in den Kinderschuhen. Seinerzeit (Ihrerzeit) fühlte er sich verbunden, vernetzt, integriert, während er jetzt, da alles vernetzt und integriert ist ins Bodenlose fällt wie der Schattenriss im Vorspann zu Mad Men, einer Serie die es damals noch nicht gab. Der Eindruck beobachtet zu werden produzierte ein psychisches Echo, ein Gefühl des gleichzeitigen Verlorenseins, der Trostlosigkeit und eine chemische Euphorie von der er jetzt weiß so fühlt er sich, der Süchtige, der den Luxus des Unglücks schleichend gegen den Fluxus der Sucht, der Degeneration und der sozialen Isolation eintauscht…vor 12 Monaten war er noch einmal in dieser Bar gewesen, ein gepumpter Urlaub mit einer Verwandten die sich ausgerechnet den Urlaubsort ausgeguckt hatte, an dem er ein halbes Jahrzehnt zuvor nicht gewusst hatte, dass er sich glücklich schätzen konnte. “Ich ging also noch einmal in diese Bar…”, sagt er zu Skellington, der längst nicht mehr an seinem Platz sitzt, da ist nur noch ein leeres Becks (Skellington ist ein Becksist) und eine noch vor sich hinkokelnde Krampe einer Selbstgedrehten, Signifikanten des Abwesenden, der sich nicht auf sein Rad geschwungen hat sondern es neben sich herschiebt, denn er sehnt sich lediglich danach radzufahren, kann es aber wegen schwerer Durchblutungsstörungen in den ollen Rentnergräten nur schieben, und selbst dann muss er zwischendurch in der Pizzeria “Eruptio” einkehren und sein schweres Herz mit Thunfischpizza, Grappa, Gaulloises, Espresso und einer aufbauenden Mixtur aus Maulheldentum und Klugscheisserei trösten, der Pizzabäcker lauscht fassungslos einem Monolog über die richtige Art und Weise Pizza backen, Marketing zu betreiben, einen Reifen aufzupumpen, er versteht kaum die Häfte und will nur eines, dass Skellington endlich aufhört lauthals über den richtigen Umgang mit der MAFIA!!! zu schwadronieren… “….und im selben Moment wußte ich dass ich selbst damals derjenige gewesen bin, der mich beobachtet, aus meiner eigenen Zukunft…” Blackie nimmt Skellingtons Platz ein, Perreira erzählt weiter ohne den Wechsel zu bemerken, auch ohne zu bemerken dass er nicht weiter erzählt, sondern nur weiter denkt, also schweigt. Blackie nickt kurz in die vier Ecken des Ringes, und begrüßt Barbie Q., die Servicehybridin aus Lazy Bitch, Jimmy Hendrix und Slideshow-Bob, die schon seit Jahren selbst den abgedrehtesten Säufern den Kopf nochmal so verdreht dass ihre Gesichter Richtung Ausgang zeigen, indem er seine Lebemann-Mundwinkel runterzieht und sagt: “Nett sein ist was für Teenies” “Ach ihr…” um sich dann Perreira zuzuwenden. “Sag mal hast Du schon mal Neutrino-Witze gehört?” “Im Zusammenhang mit Warentermingeschäften.” “Hey Lloyd, können wir jetzt schon mal für in einer Woche 12 Pils bezahlen?” Lloyd lacht. Perreira kritzelt etwas auf einen Bierdeckel was er Bieroglyphe betitelt.