Beosphäre
Als selbsterkannter jüngster Greis der Welt ohne HGPS (Progeria) hat Becks Benny
das Thema Krankheiten für sich entdeckt:
“…die Kinder brachten also ihre Kuscheltiere mit zum Arzt und der fragte: was
hat denn Dein Teddy? Darauf antwortete ein Kind `Hepatitis`, und der Arzt
fragte: Hepatitis A oder B? Darauf wußte das Kind keine Antwort. Das ist
blamabel. Das ABC der Hepatitis sollte man als i-Dötzchen drauf haben.”
Es folgt ein Exkurs zu den heiklen Aspekten des Austerverzehrs und eine
Verschwörungstheorie, in deren Fokus hypochondrische Gourmets stehen,
die als stark abgeschwächte Form des Fugu-Roulette die kulinarische
Massenvernichtung von Muschelfleisch betreiben.
Becks Benny dozierte und redozierte bis Strothmann einen Tesserakt im
Kopf hatte. Chancen, eigene Beiträge zu platzieren standen erfahrungs-
gemäß schlecht, außer wenn Becks Benny direkt von der Toilette kam
und noch nicht Platz genommen hatte. Strothmann versuchte es mit
einer rethorischen Ablenkung: “Wußtest Du dass es eine Vogelart namens
Religiosa Religiosa gibt?”
“Was Du nicht sagst”, erwidert Becks Benny, “Ich dachte die sei seit
Nietzsches Zeiten ausgestorben.”
Griechisch-Römisches Ringen um Worte. Große Müdigkeit. Durch
jahrelangen Alkoholmissbrauch verursachte Schwellungen unter
der Haut seiner Handflächen. Man sollte meinen, Strothmann sei
froh, wenn Becks Benny durch Abwesenheit glänzt, dem ist aber
nicht so, denn das war gestern. Heute ist Montag.
Mir wird klar was das bedeutet, als ich nach kurzem Triumphgefühl
- hervorgerufen durch den Goldsprung eines Athleten namens
Holzdeppe - auf einen Sprung im Absud vorbei schaue, und es
ist niemand da, mit dem ich über dieses Ereignis reden kann.
Auf dem Treppenabsatz stehen zwei Abiturienten, die sich über
Verwechslungen und deren Komik unterhalten: “…und ehe der
Golfspieler erkannte, dass ich kein Trainer bin, sondern nur
ein Praktikant, der im Clubhaus die Gläser spielt fragte er
mich um Rat, was er anders hätte machen sollen an diesem
Loch. Ich keinen grünen Schimmer und antworte, na ja,
beim Abschlag wäre ein Driver die bessere Wahl gewesen,
und für den Bunker hätten Sie das Eisen 7 benutzen sollen.
Damit hätten sie den Vogel abgeschossen und er so:
ja, genau, das leuchtet ein, obwohl selbst mir klar war dass
das völliger Bullshit war.”
Die zwei Pseudo-Caddies auf dem Treppenabsatz sind zusammen
nicht so alt wie ich. Die Themen sind mir so fremd wie mir Unbe-
schwertheit nicht geheuer ist. Drinnen halten sich am Tresen Minimax
und sein Freund auf, beide noch nicht auf der Welt gewesen
als ich schon zum Leberinventar dieser Pinte gehörte.
“Was willst Du trinken?”
Ich bin als Stammgast fehl am Platz, eine Fahlbesetzung.
Der Altersdurchschnitt des Publikums ist in den letzten Wochen
radikal gesunken, ich schwimme in frischem Blut, bevor ich
in diesem Jungblutbad untergehe suche ich das nahe liegende
Weite. Likörchen hält die Stellung im Zacher, ein Altersgenosse,
mit dem ich mich über den Aufstieg und Niedergang gastrono-
mischer Legenden austauschen kann, die wir als Saufkundschaft
erlebt und überlebt haben. Wie erleichtert werde ich sein,
wenn die Synchronizität der Erinnerungen das Gefühl der
Geborgenheit herstellt, das nur diejenigen kennen, deren
von Ohr zu Ohr gerauntes “Weißt Du noch?” Epochen und
Generationen heruf beschwört, deren Protagonisten tot sind, in
Beruf und Ehe verschwunden, oder die den Absprung verpasst
haben, in irgend einem Schuppen hängen geblieben sind, wo
sämtliche Gäste sie gleichgültig umschwimmen wie Fische einen
Felsblock in Stromschnellen. Nichts davon wäre mit jemandem
zu teilen, der nie in seinem Leben einen Telefonhörer in der
Hand hatte oder das Geräusch eines Nadeldruckers gehört hat.
Wer überdauert hat findet keinen Bezug zu Personen, die noch
nichts überdauert haben können.
Ich husche an einem Plakat vorbei, von dem ein blonder Pennäler
verkündet: Ich wills wild, und denke: ich wills gar nicht.
Im Zecher kein Likörchen, dafür ein Relikt, das selbst mit
Antiquitäten handelte, einst in strahlend hellen Leinenanzügen,
mit Gehstock, Sonnenbrille und Fedora ausgestattet Werbung
für die koloniale Vergangenheit betrieb, mit deren Artefakten
er handelte. Der Zahn der Zeit hat sein Zahnfleisch beseitigt,
die Zähne sind lang, gelb, stehen weit auseinander. Geblieben
sind protzige Messingringe, der Leinenanzug und der Vollbart
mit gezwirbeltem Schnäuzer, über den Glanz hat sich eine
graue Schicht gelegt, der Schmutz der Zeit, der auch in
Anzügen sitzt, deren Träger peinlich um das Vermeiden von
Flecken bemüht sind, wenn sie lange genug ohne Intermezzo
in der Reinigung getragen werden.
Statt Grandezza Verlumpung und Verfall, ein verlebtes Gesicht
dessen Wangen herabhängen wie die Hautlappen eines Beo.
Ihn freut mein bekanntes Gesicht. Seine Finger kramen lange
in den Tiefen einer Tabakdose, Vogelkrallen die Lottofee
spielen. Mit schleppender, aber freundlicher Stimme lädt
er mich ein: “Wie ist es? Kommst Du mit einmal um den Block?”
Jemand in der Zukunft geht über mein Grab. Mit einem Schaudern
erinnere ich mich an die Synchronizität einer Liebschaft, an
eine Dreiermanege. Ich lehne höflich ab und zittere vor Angst,
sein Schicksal nicht vermeiden zu können. Als er von dannen
geschlurft ist bleibe ich noch eine Weile alleine im viel zu
schwülen Innenraum hocken, ein ungesehenes, zumindest
aber nicht beachtetes Sinnbild.
Strothmann gibt nach seinem missglückten Abstecher reumütig
klein bei, flüchtet schleunigst zurück in die Zukunft, die da heißt:
Es gibt auch andere. Andere, die nicht überdauert, sondern überlebt
haben, die schon da waren als der Punk begann, und die sich ihre
eigene kleine Bühne schufen, auf der sie jetzt das Idol sind, das die
echt krassen Zeiten volle Lotte mitgemacht und sogar gestaltet hat,
sie für nachwachsende Generationen am Leben hielt, deren Metalcore-
Cheerleader sich so an den Gastro-Dino heranschmeissen wie minder-
jährige Boxenluder Robert Plant an den Hals.
Sie wollen die reptilienhafte mythologische Härte spüren,an der sie sich
reiben, um den Kult- in einen Heißblüter zu verwandeln.
Strothmann ist erfreut, dass der Mann mit Prinzipien in den Kicker
vertieft am Tresen sitzt, was immer seltener und immer kürzer der
Fall ist. Es ist alles wie es immer mal war, zumal Bierko sich dazu
gesellt. Anders als sonst registrieren beide Strothmanns Ausfälle
mit Befremden: was dem Impressario denn einfällt den Stammgästen
die Illusion der Verfügbarkeit der weiblichen Bedienung zu nehmen?
Das sei ein Affront und unter Kundenbedienungsaspekten betrachtet
dreist,frevlerisch und selbstzerstörerisch.
“Wie heißt noch dieses parlamentarische Abstimmungsverfahren?
Neidhammelsprung?”, scheinfragt Bierko den Mann mit Prinzipien
über Strothmann hinweg, und MmP schüttelt nur sein Weizen für
Weizen breiteres Haupt und senkt es andächtig über einem
Interview mit Jürgen Klopp.
Kurz vor Mitternacht ist Strothmann allein unter kleinen Kellnern,
Aguirre, der auf seinem Floß dunklen Totenkopfäffchen Vorträge
hält, während er hinaus treibt aufs besoffene Meer.
“…ich glaube das Universum ist Gottes Verlust, der nur durch synchrone
Sender und Empfänger zu kompensieren ist. Daher die Notwendigkeit von
Nähe und Ähnlichkeit von Sender und Empfänger, da große makroskopische
Distanz Zeitverlust und große mikroskopische Distanz Informationsverlust
bedeutet. Deswegen schützt ja die Quantenphysik den Apfel der Erkenntnis
vor Verzehr, sonst wäre er Newton nicht auf den Schädel gefallen…”
Da ist Strothmann längst so wie der Anfang des Universums. Total dicht.
Eine Singularität hinter dem Erlebnishorizont, zu der nichts vordringt und
von der nichts hängen bleibt, was nichts an der unbarmherzigen Metrik
der letzten Runde ändert, die ihn im hohen Bogen vor die Tür setzt.
“Kosmologische Spekulationen sind Eingeständnis sozialer Isolation”.
Wörter kommen über Lippen die ihn grade küssten. “Wenn Du Dir weiter
die Entfernung vom Leben als Vorankommen schön redest wirst Du nie
begreifen dass Thermodynamik und Wärme nichts miteinander zu tun
haben.”