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Scirocco

Schreck mit amüsiertem Unterton - so klang Ihr Schrei. Er war nicht beunruhigt sondern belustigt, ohne den Grund der Erheiterung zu kennen. Sein Impuls sich der Quelle des Schreis zuzuwenden war kein panischer Impuls, eher spontane Sensationslust. Ihr breites Lachen, das einen imposanten und makellosen Überbiss entblößte, bestätigte was sein Gehör ihm signalisierte. Alles in guter Butter. Kein aufgeschreckter Elefant war auf einen dreibeinigen Schemel gesprungen, sondern als Cheri im Rucksack nach Expressen wühlte kam ihr eine Eidechse entgegen, die einen Mini-Prinzenrollen-Keks erbeutet hatte. „Angels Share“, rief sie mit dieser lispeligen Stimme, die ihm gefiel wenn sie laut war und ihm missfiel wenn sie schrill war oder flüsterte. Er grinste obwohl er nicht genau wusste was sie meinte. Ihre Vergleiche waren entweder einen Tick daneben oder komplett abstrus, aber immer kurz, knapp und ohne Verb. Er beneidete sie um ihre Einfälle auf die er nie gekommen wäre. Eine Neidechse mit schokoladengefüllter Tellerlippe huschte die geneigte Wand aus festem Kalkstein hoch, eine gutgriffige Platte, die sich unter den Händen warm und lebendig anfühlte. „Wieso Angels Share?“ erkundigte er sich neugierig bei Cheri, die in einigen Metern Abstand da stand, der Eidechse nachblickte und traumverloren das Kletterseil aufschoss. „Das ist der Anteil der Engel, eigentlich der in Holzfässern durch Verdunstung anfallende Schwund an Whiskey, aber ich hab mir Engel immer in Form von Eidechsen mit Flügeln vorgestellt.“ Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. Es passte nicht zusammen. Engel. Kekse. Bruichladdich. Trotzdem brachte der Vergleich eine Saite in seinem Inneren zum Klingen, deren Schwingung eine süße Traurigkeit heraufbeschwor. Er war – wieder einmal – unfassbar glücklich. Mit dem Unfassbaren ging eine Beunruhigung einher, eine Beunruhigung, die er in einigen Momenten auch empfand wenn er Cheri ansah und nicht bestimmen konnte an wen oder was ihr Gesicht ihn erinnerte. Momente, in denen sie nicht lächelte und eine dünne Klarsichtfolie Schrecken ihr Konterfei bedeckte. Er fröstelte in solchen Momenten, deren Kälte sie gar nicht fühlte und vermied es dieses Thema anzusprechen. Warum auch? Er schätzte diesen subtilen Kontrast von Paradiesischem und der Andeutung einer Störung. Die reine Idylle war so langweilig wie ein widerspruchsfreier Whiskey, der den Gaumen nicht die Spur provozierte. Im mild glühenden Abendlicht schimmerten die Felsen bernsteinfarben wie ein guter Islay Single Malt. Er saß bequem auf einem Stein in Form eines vierblättrigen Kleeblattes, zog sich die Kletterschuhe aus, und während seine Zehen sich erleichtert in den freien Raum hinein spreizten blickte er meerwärts zum v-förmigen Ausschnitt der Cala Mancina über dem die Sonne hing wie ein Pfirsich aus einem Einmachglas, triefend von honigfarbenem Licht. Cheri schnürte den Rucksack und sah dabei dem Spiel des Lichtes auf der sich kräuselnden, stahlblauen Wasseroberfläche zu; eine Weißglut aus Silber und Zinn, die einen kühlte statt einen zu verglühen und in die sie beide gleich ihre verschwitzen Körper versenken würden. Ihr Seitenprofil erinnerte ihn an Klaus Kinski in Fitzcarraldo, ein schadenfroher Ausdruck des Triumphes, und für einen Moment meinte er die Zigarre zwischen ihren Zähnen tatsächlich sehen zu können. Als hätte sie zwar nicht seine Gedanken gelesen oder erahnt, aber jedenfalls gespürt, dass er sie taxierte wandte sie sich von den unvorhersehbaren Positionsverschiebungen der Lichtsignale auf dem Wasser ab, obwohl sie dem Schauspiel bis zur Löschung des Lichtes auf der Matrize des Meeres hätte zusehen können, ein Anblick den sie nie satt werden würde, der sie zugleich schwermütig stimmte und leichtsinnig machte, den Wunsch in ihr weckte nachts in die Finsternis des Meeres hinaus zu gleiten und nicht zurückzukehren. Sie sah ihn mit Bette Davies-Augen an. Wie meistens wenn er sich ertappt fühlte blickte er prüfend auf seine Extremitäten, üblicher Weise die Finger, diesmal die Zehen, die er in seine Sandalen bugsierte. Sein Bart und seine Brustbehaarung kräuselten sich, silbern wie das Blattpalladium aus Licht auf dem Wasser, aber nicht so glänzend. „Woran hast Du schon wieder gedacht“, fragte sie ihn, „erinnert Dich der Sonnenuntergang wieder an ein Spiegelei?“ Sie wusste um seinen Spleen romantische Kulissen zu verfremden und zu parodieren, sie mit Vorliebe mit etwas Handfestem, Greifbaren, am besten Essbaren zu assoziieren so als sei ihm die Kitschigkeit der Szenerie in der er sich aufhielt peinlich, als sehe er sich selbst als Fehler in der Perfektion der Umgebung, deren Bestandteil zu sein er nicht verdiente. Also verwandelte er die malerischen Attribute in etwas Profanes, Alltägliches, Nüchternes, in etwas Saftiges und Feistes das besser zu seinem Selbstbild passte. In diesem Spleen steckte eine leise Kritik an ihrer vorgeblichen oder tatsächlichen Vorliebe für Schwebendes, Ätherisches, für den blassen Schimmer des Mondlichtes auf den Specksteinen der Bürgersteige von Lo Capo San Vito. Er proklamierte ja, dass es zum wahrhaften Garten Eden der Dissonanz, der Störung und gerne auch einer Prise Gefahr bedurfte, der Utopie einer Vertreibung und einer Zerstörung des Garten Eden, aber es steckte noch etwas anderes hinter der Koketterie mit dem Rülpsen inmitten der Sphärenharmonie, ein vages Heimweh, so schwach, dass es nicht mal mehr zur Aktivierung der Erinnerung an eine Heimat taugte, und da war noch etwas anderes, ein Mangel der nicht verriet woran es mangelte, der aber schleichend an Ausmaß zu nahm, so langsam dass er ebenso wenig als bedrohlich empfunden wurde wie das Altern. Dank ihrer Ohrstöpsel hörte sie nicht mehr wenn er im Schlaf redete oder schrie. Das änderte nichts daran dass sie schockartig wach wurde wenn er aus einem Alptraum im Schlaf hoch schreckte und erst recht nicht an blauen Flecken und Kratzern die sie davon trug wenn er im Schlaf neben ihr um sich mehr fuchtelte als schlug. Ernsthafte Verletzungen drohten ihr nicht. Es war als versuchte er etwas abzuwehren ohne das verletzen zu wollen was er auf Abstand hielt. Einige Male hatte sie sich zum Schlafen auf die Dachterrasse verkrochen, oder – wenn kein Sternenhimmel sie in den Schlaf akupunktierte, dafür ein gleichmäßiger Regen rauschte wie ein sanfter Sandstrahl der das Vergehen der Zeit hörbar machte – auf den Ottomanen im Wohnzimmer, aber sie hatte diese kleinen Fluchten eingestellt. Wenn er wach wurde, wach in einem physiologischen aber nicht in einem psychologischen Sinne, und er der vertrauten Umgebung gewahr wurde, die ihm aufgrund des Echos und der Nachbilder der Traumszenerie fremd und unwirklich vorkam suchte er Trost und Schutz. Sobald er nach einigen Sekunden realisierte, das seine aus Morpheus Parallelwelt überbordende Angst zwar noch nachwirkte, aber – solange er wach blieb – ihren Grund verloren hatte, ließ er eine Nähe zu die ihm normaler Weise unerträglich war, vertraute sich ihr wenn auch schweigend an, und gelegentlich fühlte sie sich so verzweifelt und intensiv begehrt, dass es ihr in dieser Atmosphäre aus flüchtigen Nachtschatten und dem Klirren der vom Wind gerührten Lamellen auf dem Glas der Balkontür egal war wen oder was sein Begehren eigentlich meinte. Entweder konnte oder wollte er ihr nicht sagen wovon er eigentlich träumte, welche Traumata den Träumen ihren Stoff und ihre Dramaturgie lieferten. „Ich weiß nur dass es banale Dinge sind“, wiegelte er ab, „und behalte nur einige Sätze die wohl im Traum gefallen sind.“ Einer hatte sich ihr besonders eingeprägt, weil er ihr auf die Dimensionen hinzuweisen schien, in denen seine Traumwelten Wirklichkeit waren: „der Tod ist nicht das Gegenteil das Lebens. Das Gegenteil des Lebens ist: nicht tot zu kriegen“. Seine Träume würden ihn überdauern. Ihn mit sich ziehen in eine unerwünschte Unsterblichkeit. Das fürchtete er, obwohl er nicht wusste, oder es verdrängte wovon seine Träume handelten. In großen Kulissen ist es egal, wenn man seine eigene Hölle als ein Schneckenhaus mit sich trägt. An diesen Ausspruch musste sie denken als sie beim Klettern in einem Sektor namens „Cinema Deserto“ in einem Felsloch auf ein Schneckengrab stießen, in dem tausende von Schneckenhäusern lagen, ein Schatz, zurückgelassen von einem Massenmörder, der hier einst gehaust hatte. Schreckenhäuser untertitelte sie das Foto, das sie an eine Freundin am anderen Ende der Insel schickte, die ihr Geld mit organisierten Geländeritten rund um den Ätna verdiente. Mittlerweile wusste sie vorher wenn er in Gefahr war; immer dann wenn er zu lange schweigend nach Fernen hinter dem Horizont Ausschau hielt, seine Gesichtszüge asymmetrisch wurden, weil er gedanken- und überhaupt verloren mit der Zungenspitze in einer Zahnlücke pulte. Wenn er in dieser Stimmung angesprochen wurde reagierte er zunächst unwirsch, dann einsichtig. Es war einfach. Sie brauchte nur vorzuschlagen: „Lass uns nachher noch ein paar Biere bei Pino trinken“. War er betrunken genug, dann träumte er entweder nicht, oder der Traum erschütterte ihn zumindest nicht in seinem bierseligen Tran. Aufgrund der Anwendung dieses Patentrezeptes träumte er immer seltener, aber wenn dann heftiger. Manchmal wurde sie im Morgengrauen wach und wenn sie dem Sog folgte, den seine Schwerefeld neben ihr entfaltete, sah sie in seine starr auf ihn gerichteten Augen, Monde die von seinen Pupillen gefressen wurden. Wie lange mochte er da schon gehockt und sie angestarrt haben als sei sie umgeben von einem Kokon aus einer anderen Welt dem alles Menschliche, inklusive die physikalischen Gesetze und der Dialog, fremd waren? „Seit wann?“ frage sie ihn, er entschuldigte sich peinlich berührt und wurde ein Kind das sie in den Arm nahm. Das Paradies ist ein gemächliches und gründliches Vergessen der Existenz die man hinter sich lässt. Eine Erleichterung vom Ballast aus Passwörtern mit Zahl und Sonderzeichen, PIN-Nummern und sozialen Beziehungen, aus ungelösten Konflikten und Fristen die einem gesetzt wurden, eine Befreiung aus der Abhängigkeit von Zahlungseingängen vor der Abbuchung von Lastschriften und Daueraufträgen, ein Abschied von der Migräne als Effekt der aus Unbehagen vor den nächsten Tagen in Stammkneipen durchzechten Nächte, dem Schmerz, der den Zeitdruck und das Gefühl der Überforderung überlagert, der Endlosigkeit der November, die Jahre dauern und der Ungeduld, Wut und des Unterlegenheitsgefühls, den Begleiterscheinungen der ewig langen Rotphasen von Ampeln. Sizilien wirkte auf sie beide wie ein Opiat, das alles Hässliche aus der Wahrnehmung eliminierte, und – was am wichtigsten war – auch jedes eigene schlechte Gewissen wegen der privilegierten Position auslöschte, die sie beide in einem Paradies bezogen, das für viele der Bewohner dieser Insel nichts paradiesisches an sich hatte. Die Kellner, die bei 45 Grad Hitze in schwarzen Anzughosen und Hemden mit langen Ärmeln die Gäste bedienten, erzeugten kurze, mitleidige Impulse die sie zum gönnerhaften Hinterlassen horrender Trinkgelder veranlassten, entgegen genommen mit einem Mix aus Unterwürfigkeit und Feindseligkeit, auf die sie mit dem Hochgefühl sozialer Parasiten reagierten, denen die Alltagsqualen der Bediensteten bewusst machten wie blendend es ihnen auf einer Skala von 1 bis 1000 ging (1001…). Die über Lampedusa nach Sizilien gelangten Flüchtlinge, zu einem mühsamen Leben erweckte Vogelscheuchen aus Sonnenschirmen, Sonnenhüten, Sonnenbrillen die über den Strand stelzten und versuchten, ihre Sortimente an Urlauber zu verhökern, die Gischt aus Plastikbehältern, die an den Gestaden der weniger vom Tourismus profitierenden Gemeinden den Strand verschandelten, die Asiatinnen, die Kunden für ihre Massagen suchten, das alles erlebten sie als kleine lästige Störungen, gleichrangig mit den Moskitos, die mit so genannten Biozidverdampfern bekämpft wurden, deren Design sie an die WC-Frisch-Zitronenscheiben von zu Hause (wo war das gewesen?) erinnerte. „Autanasie“ nannte Cheri die Vertreibung, wieder einer dieser Vergleiche, der nicht zutraf und doch treffend war. Gegen geringfügige Wehwehchen wie die Quaddeln, die der gelegentliche Kontakt mit den Protopodien von Medusen auslöste gab es Fenistil. Gegen Risse, die gelegentlich in ihrer Beziehung auftauchten, kleine schwarze Blitze in den Wänden, die für die Stabilität ihrer Allianz sorgten halfen sizilianische Rotweine, die nach der bizarren Fruchtbarkeit vulkanischer Böden schmeckten, sowie ein unerschöpflicher Vorrat an irischen und schottischen Whiskeys, hochprozentige Nostalgie, die nach langen Schiffsreisen von Palermo aus per Taxi zu ihrer Villa transportiert wurde, von deren Terrasse ein Treppe direkt zum sandkuchenfarbenen Strand führte. Er kippte gerne noch Bier darauf, aus 2 x pi-Liter-Flaschen, deren Halskrause davor warnte nach dem Konsum Auto zu fahren und mit Schwangeren zu schlafen, was ihn zum Kichern brachte. Er trank zunehmend hemmungslos, oft bis zum Filmriss. Warum auch nicht? Morgens vertrieb das Meer noch so grimmige Kater. Wenn das Wasser schon türkisfarben war, aber noch nicht in der gleißenden Sonne schimmerte, genoss er am liebsten den Druck- und Gewichtverlust, wenn er im Salzwasser den Grund unter den Füßen verlor, wenn er schwebte, ätherisch und leicht, oft noch leichter indem er ins Wasser pinkelte. Die Schwere in seinem Schädel löste sich auf wie eine Brausetablette, unter ihm schwebte pastellblass sein Körper im Wasser, gab ein konturloses Gebilde ab so unscharf und weich wie er es eigentlich verachtete. Sie hatten sich bei ihrer Lesung kennen gelernt. Zu diesem Zeitpunkt war ihr neuer Roman grade veröffentlicht und niemand, weder sie noch der Verlag, ahnte damals, dass „Wie ich meinen Vater traf“ binnen kurzer Zeit zu einem Welterfolg avancieren würde um dessen Filmrechte sich die Regisseure balgten. Er ging nicht gerne zu Lesungen, grade dann nicht wenn die Autoren – erst recht AutorInnen – jünger waren als er. Die Hoffnungswährung („Deine Zeit kommt noch“) zerrann ihm dann zwischen den von Schreibhemmung verkrümmten Fingern. Seine eigenen literarischen Ambitionen verkümmerten als Dateileichen auf Rechnern, der Umstand, dass er nichts zu Ende bringen konnte erschwerte die Fertigstellung von Texten, seiner Trägheit bei der Eigenvermarktung verdankte er den Mangel an Kontakten, deren es bedurft hätte um überhaupt Chancen auf Veröffentlichungen zu haben. Er war einfach zu arrogant um sich anzubieten und außerstande sich zu überwinden, wohl ahnend, dass nicht nur Arroganz seine Weigerung begründete, sondern noch viel mehr die Angst vor Abfuhren und Kritik. Aus der Not heraus hatte er ein Unternehmen gegründet, das zu seiner eigenen Überraschung leidlich erfolgreich war. Der Erfolg deprimierte ihn, erzürnte ihn regelrecht, er empfand es als bittere Ironie jede Menge Geld mit vertrieblichen Aktivitäten zu verdienen, gut in etwas zu sein was er zutiefst verachtete (sich anbiedern) und in dem worin er seine eigentliche Bestimmung und sein Potenzial sah ohne Resonanz zu bleiben. Er ertrug es schlecht wenn andere in seinem Metier zu Glanz und Gloria gelangten, erst recht wenn sie auch noch talentiert waren und seinem literarischen Dünkel (ja mit etwas für den Massengeschmack, das ist ja keine Kunst…) damit der Boden entzogen war. Ließ er sich dann doch einmal dazu hinreißen jemanden zu einer Lesung zu begleiten dann war er auf Krawall gebürstet, schnupperte und witterte nach Mängeln, ging auch nur zu Veranstaltungen wo er nichts Konkurrenzfähiges erwartete, er den Vergleich also nicht befürchten musste. Auf das hier konnte man in aller Abgehobenheit und Blasiertheit herunterhören und –blicken, über den Rand einer Brille hinweg die er damals noch gar nicht trug. Das Hinterzimmer eines missratenen spanischen Lokals. Der Geruch nach ranzigem Bratfett, nach kaltem Zigarettenqualm und Verleihnix-Fischen hing in der sauerstoffarmen Luft. Auf dem ganzen Weg hierhin hatte er genörgelt: „Wie ich meinen Vater traf, das klingt ja wie der Titel zu einer verunglückten Daily Soap…“…“…was ist denn das für eine sülzige Geschichte, eine Frau verliert ihre Eltern und begegnet dann einem Mann, der genau so aussieht wie ihr Vater auf den Fotos aus der Zeit vor ihrer eigenen Geburt…“. Er hatte so lange genervt bis seine Begleitung ihn mit den Worten: „weißt Du was, ich will da nicht mehr hin. Ich will mit Dir eigentlich nirgends mehr hin.“ stehen ließ und fürderhin kein Wort mehr mit ihm sprach. In Ermangelung eines Plans ging er zu der Lesung – und nach zahlreichen Rioja, wechselseitigen Affronts und Beleidigungen wurden Cheri und er so eine Art Paar; obwohl sie wie er einräumen musste mehr als passabel schrieb, sich vielmehr als so stilsicher und begabt entpuppte, dass es ihm schwer fiel seine Eifersucht im Zaum zu halten. So rasch sich herausstellte wo ihre Neurosen und Voreingenommenheiten sie trennten, so rasch wurde klar, dass viele ihrer Vorlieben gut zueinander passten und sie sich auch da gut ergänzten, wo dem einen etwas fehlte wovon der andere zu viel hatte. Aus einer Bierlaune heraus buchten sie am Tresen eine gemeinsame Flugreise nach Sizilien. Er hatte ein Bild von einem copacabanaähnlichen Strand im Netz gefunden, untypisch für Sizilien, für das eher Kiesstrände charakteristisch sind. Vor allem: der Strand mündete direkt an ein damals noch kaum erschlossenes Klettergebiet. Klettern und Meer…ein Traum. Obwohl Sie unter Höhenangst, Flugangst und einer leichten Wasserphobie litt, und trotz ihrer hellen Haut, die sich schon spannte wenn im Fernseher ein Sonnenaufgang gezeigt wurde, griff sie den spontanen Impuls auf. Als er konsterniert fragte: „Was machst Du da?“ hatte sie schon alles geplant und gebucht. Flug, Ferienwohnung, Mietwagen. Dass sie das Rückflugticket verfallen lassen würden ahnten sie da noch nicht. Sizilien macht einem den sonstigen Mangel an Sonnenlicht bewusst, so wie eine wolkenlose Nacht in den Dolomiten einem bewusst macht was ein Sternenhimmel ist. Es genügte die Fahrt vom Flughafen die Küstenstraße an der Bucht von Trapani entlang, weiter durch die ausgemergelte Mittelgebirgslandschaft rund um Castelluzzo und schließlich die Bucht von Cofano entlang bis Capo San Vito um beide bis zur Schweigsamkeit zu verzaubern. Noch leichenblass vom farblosen Sommer der hinter ihnen gelegen hatte fühlten sie wie ein bronzefarbener Schimmer ihre Haut einhüllte, ein atmender, pulsierender, warmer Kokon, der Differenzen glättet, Rückreisen in unerreichbare Ferne rückt und sich nachts im Schlaf behutsam löst, zu Avataren formt, die unerfüllte Leidenschaften in dicke Bleimäntel verpacken und sie in lichtlosen Ozeanen ohne Küsten versenken. Den ersten Abend verbrachten sie sich in den Korbsesseln einer Strandbar lümmelnd mit den nackten Füßen im Sand.Sie bestritten ein lebhaftes Gespräch das nur aus Worten wie „unglaublich“, „ich fasse es noch gar nicht“ bestand, was sich zum einen auf die Umgebung bezog, zum anderen darauf, den Entschluss gemeinsam zu verreisen tatsächlich umgesetzt zu haben. Sie aßen Fisch und tranken dazu Marsala in Mengen, die unvorstellbar waren. Alles war lachende Sonne, der runde Keks im Maul der Eidechse war Sonne, die Mafia und die Korruption waren Sonne, die Armut und der Hautkrebs waren Sonne, die Flüchtlingstragödien und die leer stehenden Villen getöteter Familien waren Sonne. Sie lachten sich krumm als sie in Palermo übers Ohr gehauen wurden, und Betrüger und Betrogene sich zum Abschied feixend zuwinkten. „Ich hätte ahnen müssen dass da was faul ist, als der jüngere von den Beiden, der der auf dem Klappstuhl saß mir von den 20 € für den Parkplatz 10 wiedergab.“ „Jetzt ärger Dich nicht. 35€ für ein Strafmandat freut die Gemeinde von Palermo. Ihr Polizistenkollege bekommt auch was ab, alle sind glücklich. Ich hab noch mitbekommen, dass der eine kurz nachdem wir unseren Wagen verlassen hatten telefoniert hat. Wenn’s weiter nichts ist, das macht uns nicht arm.“ „Ich mache mir Vorwürfe. Ich war zu naiv. Da hätte wer weiß was passieren können.“ Cheri verdrehte die Augen, nicht gereizt, sondern eher überrascht über die Furchtsamkeit ihres Beifahrers. „Das ist“, resümiert sie, „wie dieser Urlaub. Man fasst den Entschluss, man macht es, und dann schaut man was passiert. Ich hab keine Angst. Wenn Du Angst haben solltest dann davor wie ich Dich sichere wenn Du vor steigst.“ …die Angst war eine Sonne, die sich über ihn lustig machte. Er liebte sie für ihren Mut und ihre Konsequenz, dafür dass sie wahnsinnige Aktionen die ihm einfielen kurz entschlossen in die Tat umsetzte. Wie die Fahrt nach Palermo, mitten in den irrwitzigen regellosen Stadtverkehr dieses Molochs, dessen Regellosigkeit zu Achtsamkeit veranlasste, so dass schwere Unfälle selten waren; die ganze Himmelfahrt nur um ein Geschäft zu suchen, in dem es Seile, Expressen und andere Materialien gab, die zum Klettern notwendig waren. Einen Tag zuvor hatte sie beobachtet wie er sich an den warmen Fels schmiegte, als lehne er sich an das Fell eines gutmütigen Mammuts. Mit einem leisen Anflug von Bedauern nahm sie zur Kenntnis, dass er diesen innigen Kontakt zu ihr höchstens zuließ, aber nicht suchte. „Ich bin nun mal ein Kaltblüter. Ich brauche Sonnenenergie damit ich mich aus meiner Starre löse.“ Der Fels fühlte sich wirklich gut an. „Hättest Du mal Dein Seil mitgenommen“, tadelte sie, „so müssen wir uns hier das Zeug besorgen“ Er entgegnete konsterniert: „Aber Du kannst doch gar nicht sichern. Ich müsste es Dir beibringen. Selbst wenn ist da niemand der hintersichert, der kontrolliert ob Du es richtig machst.“ „Keine Widerrede. Wir fahren morgen nach Palermo. Da wird es Zubehör geben. Ich kann das schon wenn Du es mir zeigst.“ „Da hängt mein Leben dran. Das sag ich jetzt nicht aus Schiss, Du unterschätzt das, Du würdest Dein Leben lang daran knabbern wenn mir was…“ „Zu gütig. Keine Sorge. Ich lass Dich schon nicht fallen.“ Zwei Tage später war alles gut gegangen, hatten sie das Extremsportgeschäft gefunden, das nur als Gerücht existierte, sie hatte ihn gesichert und er hatte es gelitten, dem Schwerpunkt hinter seinem Körper zu folgen, die Hände freizugeben und sich auf ihre Herablassung einzulassen – an einem zu kurzen Seil, einem Restposten, was ihm recht war, bedeutete es doch lediglich kurze Routen vor steigen zu müssen. Beim zittrigen Klippen der Karabiner, beim krampfhaften Halten von großzügigen Kellen und während des Ablassens mit dem flauen Gefühl Bungee ohne Seil zu springen schwitzte er soviel Blut und Wasser, dass er komplett dehydriert den Boden erreichte. Er benötigte Minuten, bevor er das Rauschen des Meeres und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren wieder zu unterscheiden vermochte. In der Nacht bevor sie nach Palermo fuhren, die atemberaubende Küste des tyrrhenischern Meeres entlang, schlummerte nur sie sanft zum Klang der Glocken von trittsicheren Ziegen ein, die in der verglimmenden Dämmerung bei ihrer Futtersuche in den Schrofen der Steilküsten nicht blind aber ohne hinzusehen dem Wissen ihrer Hufe vertrauten. Während sie von Almwiesen und Kühen mit Fräulein Antje-Frisuren träumte lag er wach und grämte sich vor Sorge um alles was da passieren kann, ärgerte sich über den plötzlichen Druck der Verantwortung, über die Wiederkehr der Angst, all dessen, was ihn so weit weg von Firma und Fristen, von den Briefkästen die er aus Scheu vor schlechten Nachrichten nicht öffnete hier wieder einholte. Nach einer halben Flasche Nero d Avola war er besänftigt. Eine Pflanze Abenteuerlust brach sich Bahn durch den Asphalt seiner Phobien und Bedenken. Die Erosion der Chronologie ist ein Effekt von Gleichmass und Rhythmus, die Wiederkehr des Gleichen beruhigt, jedenfalls dann wenn das Angenehme sich wiederholt. Egal ob man uns in den Schlaf wiegt oder ob das Rauschen des Meeres einen hintergründigen Klangteppich webt, der unabhängig von Jahreszeiten und Ereignissen immer da ist, Gleichmass und Rhythmus suggerieren es sei unmöglich zu sterben, weil das Vergehen nichts anderes wäre als diesem unvergänglichen Rhythmus gleich zu werden. Zu Beginn ihres Aufenthaltes konnten sie den Ereignissen noch Tage zuordnen. Am ersten Tag (oder doch am zweiten?) verirrten sie sich im angenehm kühlen Labyrinth der Gassen von Erice, schaufelten in einem Cafe namens „Edelweiß“ Granita di Limone in sich hinein, stöberten in Sammlungen erotischer Lithographien, die sie in einem zum Antiquariat umgestalteten normannischen Kirchenschiff fanden und genossen die Aussicht auf die im Dunst schwimmenden Ägadischen Inseln mit dem Rücken zur warmen, aus Kalksteinquadern gemauerten Wand des Castello del Balio. Am zweiten Tag (oder doch am fünften?) badeten sie in einer vom Meer in jahrtausendelanger müheloser Geduld in den Felsen gespülten Lochkaverne, deren Beckenboden und -wandung sich trotz seiner Unkerei über Schnittwunden in den Fußsohlen als glatt und reibungslos wie die Emaille einer Badewanne erwiesen. Stundenlang trieben sie träge wie Cocktailoliven in der von ihnen entdeckten Kaldera, deren Schale das Meer unablässig mit leicht moussierendem Blue Curacao versorgte. „Ob das wohl schmeckt?“ „Was denn?“ „Blue Curacao mit Cidre“. Ein für sie (Alleinstellungsmerkmal!) kennzeichnender Mischlaut aus Ächzen, Seufzen und Räuspern signalisierte Skepsis: „Sieht glaube ich interessant aus, ist aber ungenießbar, etwa so wie Du.“ Zu ihrer Badewanne kehrten sie immer wieder zurück. Nach dem wolkenlosen Gewaltmarsch rund um den Monte Cofano plumpsten sie ohne sich zu entkleiden unterzuckert und erhitzt in ihr natürliches Pullerbecken, das sie zunächst für eine Luftspiegelung hielten, weil sie sich („Kreislaufproblem“) nicht vorstellen konnten dass die Umrundung jemals endet. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen auf die blaue Steilwand des Himmels gerichtet, ließen sie die Tor-Tour Revue passieren - den steilen Aufstieg in einer von der Küste nicht zu sehenden tiefen, schluchtartigen Scharte im unberührten und doch so griffigen Felsen („nicht ohne Seil“, warnte sie ihn) - den Waldbrandgeruch in der Nase, (`was wenn ich jetzt einen Kreislaufkollaps erleide?`, dachte er exakt in dem Moment in dem eine in den Fels geschlagene Marienkapelle zum Vorschein kam, die eingerahmt war von Sonnenblumen, er war dankbar für den Schatten der gnädigen Wände, verfluchte die Steilheit des Weges, und sein eigenes Vorangehen weil er nicht zugeben wollte schon jetzt aus der Puste zu sein), - dann ihr Aufatmen und das Sich-Weiten der Landschaft bei Erreichen der Passhöhe, ein entspannendes Intermezzo, dann die Umrundung der zerklüfteten Flanke des Berges, nautische Tiefblicke (über fragwürdige Geländer aus gebleichten, an Beinhäuser gemahnende Holzprügeln herabschielend), die einem die Kehle zuschnürten und an denen man sich doch nicht satt sah, „kein Wunder. Wenn die Kehle zu ist, geht ja nix rein“, „noch so ein Vergleich und ich mops das letzte Trinkwasser“, das Inspizieren tiefer Grotten hunderte von Meter über dem Meer, inmitten der Steilwand, kurze, heftige Anstiege, die sie voran stapfte, er innerlich grollend über Leicht- und Wahnsinn, auf den er sich eingelassen hatte und sich selbst kasteiend für seine Verantwortungslosigkeit und Konfliktscheu, um ihr dann doch in die Grotte zu folgen die so angenehm temperiert war, dass es beinah so gut war wie ein Schluck kaltes Wasser, der in unerreichbarer Distanz auf ihn wartete, schließlich das Erreichen ihres persönlichen pools, der Sprung hinein ins Glück ohne Debatte und ohne weiteres Federlesens und ohne Bedenken wegen der in ihren Hosentaschen befindlichen Gegenstände, ob elektrisch oder nicht. Über ihnen flirrte die Luft, Trugbilder aus der Sahara, die vorgepreschte Sehnsucht von Menschen nach einem besseren Leben, die enttäuscht werden würde oder im Mittelmeer unterging. Hier war der Ort an dem sie beide ihre Augen nicht schließen wollten. Hier wuschen sie sich den Angstschweiß von ihren schlotternden Körpern nach einem sträflich unterschätzten Trip zum Gipfel des Cofano. Der Steig für Geübte erwies sich als heikle, beinahe alpine Gratwanderung erwies, mit Schwindel erregenden Aussichten und unpassendem Schuhwerk, deren Höhepunkt eine Kraxelpartie an einer glatten Steilwand war, die sie sich an einem verwitterten Schiffstau entlang hoch hangelten, was Cheri mit einem pointilistischen Muster blauer Flecken auf ihren Alabasterknien bezahlte. Die Kletterei ging nahtlos über in einen Trampelpfad durch Wiesen mit spitzen, dornigen Gewächsen, die die Knöchel piesackten. Das half immerhin gegen das Jucken der Sticheleien von Moskitos, die der Autanasie entkommen waren, das war das Gute im Schlimmen. Die Stimmen…kleine Steinmanderl dienten ihnen als Wegweiser, aber nicht als Beruhigung. Ihre kultische Botschaft richtete sich nicht an Wanderer aus dem Tal, sondern an Empfänger, die von oben herab kommen, unbemerkt vom Radar, nur von den Vögeln erahnt, die den Luftraum rund um den Gipfel meiden. Sie waren erleichtert die Kletterpartie (zunächst) heil überstanden zu haben, trauten jedoch dem Frieden nicht, wie man als Passagier eines Flugzeugs dem plötzlichen Ende von Turbulenzen nicht traut, zumindest wenn man zu denjenigen gehört, deren Idealismus darin besteht immer das Schlimmste zu fürchten. Sie schlichen den Hang hoch, vorbei an Feuerstellen, die im Widerspruch zu ihrem Gefühl standen die ersten Menschen hier oben zu sein. Deren Anblick rief bei Cheri eher mulmige Assoziationen hervor, an den Film „The Descent“, was ihr grade in Anbetracht des unvermeidlichen Abkletterns das Schiffstau herab, den scharfen Grat entlang und dann Schrofen hinunter, auf denen keine Wegmarkierung Hinweise auf den richtigen und vor allen Dingen am wenigsten riskanten Kurs gab, immer weniger weit hergeholt schien. „Ist echt n spiegelverkehrter Berg, erst wird geklettert, dann kommt der Anstieg“, murmelte er vor sich hin. Weil dieses Murmeln das mit Abstand lauteste zu hörende Geräusch zerriss es die einsame, sakrale Stille im Gipfelradius wie das Schrillen eines Weckers mitten in einer Andacht. Sie war ihm diesmal dankbar für seine Blasphemie. Auch wenn es vielleicht nicht seine Absicht war linderte seine Plapperei etwas ihre Beklemmungen, er wiederum hoffte, dass sie das Flattern seiner Stimme nicht wahrnahm. Sein respektloses Geschwätz war ein Pfeifen jenseits der Baumgrenze. Er fühlte sich schutzlos, ausgeliefert, gottverlassen, rettungslos verloren, und als wäre das nicht schlimm genug auch noch für sie verantwortlich. Wie hatte er sie nur in dieses Abenteuer hineindrängen können? „Warum gehst Du nicht weiter?“ „Wir sollten umdrehen“, erwiderte er gedämpft, „wir haben auf dem gesamten Weg keine Menschenseele gesehen. Niemand kam uns entgegen und niemand ist uns gefolgt. Das wird Gründe haben. Und obendrein können wir niemanden um Hilfe rufen, wir haben keinen Empfang.“ „Blödsinn. Jetzt sind wir so weit gekommen, jetzt gehen wir auch rauf.“ Er folgte ihr, und ging weiter voran. Bemüht weder zu stark nach links noch nach rechts zu driften, wo die Wiesen ohne Warnung in zerklüftete Wände übergingen, die 600 Meter tief ins Meer abbrachen, stapften sie bis zum Gipfel. Die Stille, die nur der Wind in den Gräsern und Klangquellen im Inneren ihres Körpers mit akustischen Pusteblumentupfern dekorierte, die Einsamkeit, der sie ausgesetzt waren, und schließlich der Rundblick am Gipfel des Cofano, in die blauen und weiten Tiefen der Buchten von Trapani und Cofano, die dem Blick kein Hindernis in den Weg räumten und ihm damit den Halt raubten, all das nahm ihnen so den Atem dass sie beinahe daran erstickten. Der lange, bange Moment war schrecklich schön und unvergesslich. Sie nahmen sich in den Arm, gaben sich gegenseitig Halt und Gewicht und dehnten den Moment in die Länge. Beim heiklen Abstieg half ihm das Trugbild eines kühlen Becks in einer großen, sehr großen Flasche, auf deren Glas sich eiskaltes Kondenswasser gebildet hatte. Ihr drängten sich – trotz der beruhigend profanen, obszönen Schnitzereien im Gipfelkreuz und dort herum liegender Colabüchsen und Zigarettenkippen - Bilder von behänden, bocksfüßigen Verfolgern auf, die ihr auf den Fersen blieben, sie stellten und ihr nur die Wahl ließen in die Tiefe zu springen oder sich von pyramidenförmigen Zähnen zerreißen zu lassen. Dieses Bild schob sich wie ein ungewollter Bildschirmschoner immer wieder vor ihr geistiges Auge. Sie war so damit beschäftigt dieses Bild zu verdrängen, dass sie den gefährlichen Abstieg eher beiläufig bewältigte und sie fühlte die Erschöpfung durch Angst und Sonne erst als sie auf ihre Badewanne zutaumelte, sie wie er eine von der sie überfordernden Situation gezeichnete Groteske mit wirkungslosen Sonnenhüten aus Papier für 25€ auf dem kochenden Kopf. Als das weiche Wasser sie einhüllte wie ein leicht gekühlter Bademantel aus einem engmaschigeren Stoff als Frottee fiel alle Spannung von ihr ab. „Wolltest Du nicht noch Postkarten kaufen?“, fragte Cheri ihn. Sie saßen die Mittagshitze in Pinos Strandbar aus, dessen Chef Cheri im Arm hielt, in Italienisch über ihre Brüste schwärmte. Mit dem fachmännischen Blick eines Gastronomen, der die Qualität eines Fisches durch Inspizieren seines Maules beurteilte, stierte er in ihren Ausschnitt, während Cheri appellierte: „Du solltest Deinen Eltern echt mal wieder schreiben. Sie haben uns so bei der Umsetzung unseres Traumes unterstützt.“ Damit hatte sie Recht. Nach einigen wenigen Tagen bestand die innere Verbindung zu ihrer beider Heimatort nur noch aus Wurmlöchern moderner Telekommunikation, die innere Bindung zu ihren angestammten sozialen Umfeldern war gekappt, was beide euphorisch stimmte. „Kapp die gute Hoffnung“ war ein Trinkspruch den Cheri mal vom Stapel ließ. Dessen Bedeutung blieb ihm erst schleierhaft, zunehmend besoffen gefiel er ihm immer besser. Für wen ist Hoffnung? Für die armen Schweine die hoffen müssen. Zwei Drittel des Urlaubs waren vorüber; sie hatten an den drei Felsen von Scopello gehockt, die Füße im Wasser und zugesehen, wie winzige Fische ihnen unentgeltlich die Hornhaut von den Zehen knabberten. Sie waren Zeuge von Sonnenuntergängen gewesen die so hell waren wie der Blitz einer nuklearen Sprengung. Sie hatten Jazzmusik gelauscht in einer Weinbar in Marsala, 12 Jahre alten Marsala-Wein verkostet und dazu Brot mit diversen Brotaufstrichen verzehrt, dessen Geschmack alleine als Sinn des Lebens genügt hätte. Sie hatten Kletterrouten absolviert an Tuffsteinen in Grotten, im Trockenen während es draußen Fäden regnete, und waren anschließend im Regen schwimmen gegangen. Sie hatten einem Straßenmusiker gelauscht der auf einem selbst gebauten Instrument aus zwei Woks nur durch Schlagen und Klopfen wunderbare, nach Wüste und Sehnsucht klingende Melodien zauberte, und ebenso einer Art sizilianischem Buena Vista Social Club aus alten Metzgern und Fleischern, die begleitet von Banjos und Gitarren italienische Volkslieder und Schlager zum besten gaben, unterstützt von einem Chor aus hunderten begeisterten Zuhörern, die inbrünstig mitsangen. Sie waren mit sizilianischen Halbwüchsigen, spillerig wie Eidechsen und ebenso beweglich, und ihren wohltuend ungezogenen Hunden schwimmen gegangen, sie wären beim Scirocco im Wasser beinahe von Sonnenschirmen harpuniert worden, die vom Strand aufs Wasser wehten und hatten nachts auf der Terrasse zugesehen, wie der Wüstensand im Mondlicht und im Licht der Karaokebuden leuchtende Schleier bildete, die zielstrebig landeinwärts zogen wie Gespenster mit einem Auftrag, und sie hätten den Anblick trotz der kaum erträglichen nächtlichen Hitze nicht gegen den von Nordlichtern oder Elmsfeuern tauschen wollen. Obwohl sie viel zu lesen eingepackt hatten studierten sie nur Kletter- und Reiseführer. Der einzige Kontakt mit Literatur war der Anblick eines Ehepaars, das nebeneinander knietief im Wasser stand, die Füße versenkt in Schlick und Meer, den Blick in ein Buch von Jane Austen (sie) und ein Buch von Jean Rhys (er). Innerlich begann es, da das Zeitgefühl sich wieder meldet, sobald der Schlussakkord näher rückt und der Nachhall des ersten Tons verstummt ist, am Ende der zweiten Woche in ihnen zu rumoren. Sie beschäftigten sich mit dem Rückflug, mit der hässlichen Trostlosigkeit einer Flughafenfahrt um 5 Uhr morgens - übernächtigt die versandeten Klamotten packen und dem Klimawandel entgegen, den Rollkragenpullovern, der Luft in der Heizung, den EU-Ausschreibungen und den Telemarketing-Kampagnen, die sie telefonierte weil es für ein Leben von der Kunst nicht langte. Was würde aus ihnen beiden? Hier, in der Idylle, waren die schönen Momente so üppig gestreut, dass sie seinen Mangel an Leidenschaft für sie und ihr Leiden daran kompensierten. Hauptsache sie waren zusammen, und sie waren hier, darin waren sie sich einig. Aber danach, wie alltagstauglich waren sie, zwei Beziehungslegastheniker par excellence, der eine manisch fixiert auf Attribute, über die sie nicht verfügte, die andere mit Vorlieben, deren pure Erwähnung ihn sich schaudernd abwenden ließ? Etwas stimmte nicht mit ihrem Kontostand. Sie hatte ein Nadelöhr in der Funkstille genutzt und per WLan ihren Kontostand abgefragt. Eine Umsatzabfrage ergab, dass ihr Verlag eine hohe 5stellige Summe an sie überwiesen hatte. Sie beide saßen auf einem Boulderblock am höchsten Punkt einer schmalen Passtrasse, die sich zwischen schroffen Felsen Richtung Scopello schlängelte, und frühstückten, die Bucht von Castellamare del Golfo tief unter ihnen. Gekochte Eier, Tomaten, Brot, Prosciutto und Pecorino, bloß kein Thunfisch, den sie inzwischen satt hatten und der in den Gläsern auf den Märkten deutlich weniger salzig aussah als er war. Dazu stilles Wasser, einigermaßen kühl als sie Ihren Verleger anrief. Sie blieb still, hörte nur zu, und er sah sie hinter ihrer mittlerweile Latte-macchiato-farbenen Haut erblassen. Sie beendete das Gespräch und sah ihn lange an, mit einem Blick den er als Mischung aus Entsetzen, Verzweifelung und Überraschung deutete. „Wer ist gestorben?“ „Mein Verlag.“ „Wie bitte?“ „Die komplette erste Auflage meines Romans ist verkauft. Es gibt deutschlandweit knapp 100.000 Nachbestellungen. Anfragen wegen Verfilmungen. Anfragen wegen Übersetzungen ins Englische. Der Verlag hat mir im Überschwang etwas über 50.000,00 € überwiesen. Meine Verlegerin hat mich gefragt ob ich überhaupt noch mal zurückkommen will.“ Er fühlte sich als hätte ihn jemand geohrfeigt, es gelang ihm aber den Impuls zu unterdrücken sie vom Felsen zu stoßen. Sie sah einfach zu traurig aus, und bei 50.000 Öcken bieten sich so viele Perspektiven dass man nachfragt: „Was hast Du geantwortet?“ Sie warf ihm einen bangen Blick zu: „Niemals“, und sie fügte hinzu, „wenn Du auch hier bleibst“. Es gab keine Wiederholungen im Paradies, nur neue Offenbarungen an vertrauten Orten. Als der Schock nachließ fühlten sie sich wie Erben, denen auf einen Schlag alle wohlhabenden Verwandten weggestorben waren. Prima. 50.000,00 € waren ein Anfang, aber noch nicht genug um das Ferienhaus einfach zu kaufen, mit seinem Zugang zum Meer und der Aussicht auf den Piz Monaco und den Leuchtturm von San Vito. Er setzte sich mit seinen Eltern in Verbindung und fragte sie, ob sie ihn unterstützen würden wenn er alle Brücken hinter sich abbricht und sich mit Cheri auf Sizilien niederlässt. Wie so oft überraschte ihn sein tyrannischer Vater sobald er Mumm genug hatte ihn um Unterstützung zu bitten: „Vielleicht schreibst Du dann ja doch noch für Merian Reiseberichte. Vielleicht brauchst Du eine Heimat, die so groß und reich ist, dass Du in ihr verreist und Deine Heimat nie verlassen musst.“ Seine Mutter mochte Cheri und war glücklich, dass er sich endlich für eine Partnerin entschieden hatte – wo auch immer er sich niederließ. Sie beteiligten sich mit knapp 100.000,00 € an dem Kauf des Hauses, der Verkauf seiner Firmenanteile brachte noch einmal knapp 100.000,00 €. Das genügte noch nicht ganz, aber es reichte satt um das Haus ein Jahr anzumieten, festzustellen dass in den sizilianischen Wintern guter Whiskey die nachlassende Kraft der Sonne kompensierte, und dass sie beide gut damit zurecht kamen eher wie ein altes Ehepaar miteinander umzugehen als wie frisch Verliebte. Sie thematisierte ihren literarischen Erfolg nicht, das war tabu, er blieb beim Klettern ausgelassen wie ein kleiner Junge. Nach einem Jahr reichten die Tantiemen dicke. Sie beide hatten finanziell ausgesorgt und konnten sorglos investieren, in das Haus, in ein Bed-and-Breakfast für Kletterer, dessen Bewirtschaftung sie abgaben. In den heißen Sommern badeten sie im eisgrauen Gebirgswasser der Schlucht von Alcantara, im Winter rodelten sie auf den Hängen des Ätna. Sie verließen Sizilien nur um Inseln rund um Sizilien zu besuchen. Sie sahen am Horizont Pyramiden im Meer auftauchen, die sich als Vulkane entpuppten. Sie tauchten herab zu römischen antiken Hafenanlagen, die in einer nur vom Seeweg zu erreichenden Bucht bei Panarea versunken lagen und stiegen nachts auf den Stromboli, wo die Entstehung der Erde ein greifbar nahes Schauspiel ist. Sie hatten eine Hauskatze, die sie vom Verzehr von Eidechsen entwöhnten worauf hin das Vieh richtig fett wurde. Sie kletterten immer besser und nach einiger Zeit kletterten sie in der Crown of Aragon mit Blick auf den Golf von Cofano. Sie tranken Mandelwein in Castelmola und freundeten sich in Taormina mit anderen Kletterern an, freundliche österreichische Mitvierziger, die Männer hager und ergraut, die Frauen so grazil, dass man ihre Bindegewebsschwäche nur ahnen konnte. Mit ihnen kletterten sie die Route Crema Pistacchio mit Blick auf den Ätna und seine ausufernde, üppige Flora. In dieser Route blieb sein Finger in einem gebrauchten Kondom hängen, was ihn ekelte und auf eine Idee brachte, die sie in einer Grotte am Felsriegel von Salinella realisierten. „Du musst mir versprechen uns ab und an zu besuchen“, hatte seine Mutter gebettelt, während Cheris Eltern viele Gelegenheiten wahrnahmen mal kurz im Paradies vorbei zu schauen. „Wir kommen schneller ins Paradies als zur Arbeit“, freuten sie sich. Beide mochten ihn nicht sonderlich, aber sie liebten ihre Tochter und das was sie zu bieten hatte: eine Insel, die die Seele weitet, grade mal 2 Flugstunden entfernt. Er fing wieder zu rauchen an, beide soffen was das Zeug hielt, und fühlten sich gleichwohl nur kurz nach Sonnenaufgang schlecht. Sie vertrauten der gesundheitsförderlichen Kraft von Olivenöl, der vorbeugenden Wirkung von Rotwein (vs. Freie Radikale), der Heilkraft der Sonne (Vitamin e = gut gegen Hautkrebs) und der verjüngenden Wirkung des Meeres und der fischlastigen Ernährung (fuhren ab und an nach Palermo nur um Burger in sich reinzustopfen), machten weite Bögen um die Arztpraxen, deren Türen offen standen und den Blick freigaben auf ausgemergelte Patienten deren Gesichtszüge Tragödien andeuteten, von denen sie unter keinen Umständen Genaueres erfahren wollten. Sie lasen mit Vergnügen Zeitungen aus der Heimat, die von Geschehnissen berichteten, die sie nichts angingen, sahen ab und zu fern, am liebsten Comedy-Formate, The Big Bang Theory und Scrubs, stillten so schwache Anfälle von Heimweh, fraßen sich durch die Antipasti hunderter von Restaurants, deren Angebote ähnlich und deren Qualitätsunterschiede unglaublich waren, begannen italienisch zu lernen und ließen es dann doch bleiben, letztlich wollten sie die Menschen hier nicht so gut kennen lernen und verstehen – denn dann ginge die ganze Mühle sozialer Verpflichtungen und Bindungen wieder los, das Sich-Verstricken in fremde Schicksale, und ihr eigenes war schon schwierig genug, wenn die Umstände auch noch so betörend waren. Er telefonierte immer seltener mit seinen Eltern, die ihrerseits viel auf Reisen waren, und irgendwann, mit Verlust des Zeitgefühls und dem Herabsinken der Erinnerung in die Bedeutungslosigkeit, vergaß er ihre Existenz. Er brach das Versprechen des Besuches ohne sich um das Verstummen ihrer Stimmen zu kümmern. Ihre Eltern hielten den Kontakt aufrecht, kamen aber seltener, was – ohne dass sie dies ihm oder Cheri gegenüber deutlich machten – an ihrer Antipathie gegen ihn lag, die er stillschweigend begrüßte. Aber nur damit sie Ruhe gab: „Morgen legen wir mal einen Ruhetag in Capo ein, kaufen Postkarten, setzen uns zu Pino, Du lässt Dich betatschen, ich trinke Bier und wir schreiben Karten an alte Freunde und unsere Mischpoke.“ „Ok, wenn ich Torroneparfait dazu bekomme“. Die Züge rund um ihre Mundwinkel sind in letzter Zeit bitter geworden, nicht mehr zartbitter, sondern bitter. Alles in allem jedoch blieb ihr Leben ein Traum, der wahr geworden war, die Störungen waren nicht gravierend, die Musik im Radio könnte abwechslungsreicher sein, ebenso die Küche, aber er hatte nix zu meckern. Sie setzte ihn auch nicht mehr unter Druck Autofahren zu lernen oder weniger zu trinken, drangsalierte ihn nicht mehr mit Nachfragen. An die Albträume hatte er sich gewöhnt. Ebenso an gelegentliche Irritationen wenn er im Badezimmer in den Spiegel sah. Ab und zu bewegte sein Spiegelbild die Lippen ohne dass er seine bewegte, aber das auch nur, wenn er es mit dem Alk übertrieben hatte. Kein Grund Lippenlesen zu lernen. Sie hingegen war nur so kurz beunruhigt wie ihre flüchtigen Encontres mit Menschen dauerten deren Gesichter hier nichts zu suchen hatten…ihre Französisch-Lehrerin aus dem Volkshochschulkurs, die sich als Beifahrerin in einem entgegenkommenden VW Scirocco (…was sonst…) mit einem ihr unbekannten Fahrer stritt, der Wirt ihrer ehemaligen Stammkneipe in ihrer Heimatstadt, der drei Tische weiter ein schwarzes Nudelgericht verzehrte, wahrscheinlich Pasta mit Tintenfisch in eigener Tinte. Er konnte es nicht sein, der Mann sah um viele Jahre jünger aus als Frank, aka `Schon von den Toten´. Sie war erleichtert als er bezahlte und an ihr vorbeiging, ohne Gruß oder irgendein Zeichen des Erkennens. Ein Traum, und nix Böses in Sicht. Auch kein Ende. „Ab zur Bucht“, lachte er und offenbarte einen verfärbten Stiftzahn. „Wenn wir vor dem Essen noch was trinken wollen sollten wir den Wein langsam mal kalt stellen.“ „Wenn Du meinst, John Malkovic…“ So sah er aus für Sie, mit dem grauen Bart und dem grauen Haarkranz, wie ein in Unehren ergrauter John Malkovic. Sie hatte mal heimlich ein Foto von ihm beim Schwimmen an den echten John Malkovic geschickt und es untertitelt: „Being John Malkovic“. Er hatte sogar geantwortet: „Get out of my head. By the way what the heck am I doing there? I can`t even swim.” Hatte sie ihm nicht verraten. Wusste nicht ob das seinem Minderwertigkeitskomplex oder eher seinem Größenwahn Futter gab. Er konnte unberechenbar sein was seine Psyche betraf, selbst der Garten Eden vermochte ein paar Aufwerfungen im Fundament nicht zu überwuchern, über die er nicht hinweg kam. Er, der immer Schriftsteller werden wollte…und sie, die nur schrieb um sich selbst zu behaupten, als Notwehrmaßnahme, als Schrei der Fliege mit Menschenkopf, hier, hier bin ich, sie hatte Erfolg. Er war Unternehmer und somit das, was sie eigentlich sein wollte. Wieso war er neidisch auf sie und sie nicht im Mindesten auf ihn? Nur 100 Meter war die Ätsch!-Zungenförmige Bucht der Cala Mancina vom Fuß der Felswände des Sector Cinema Deserta entfernt. Es war ein Ort der mehr oder minder Kletterern mit geländegängigen Fahrzeugen vorbehalten und damit abgeschieden blieb, wie die meisten der Orte die man gesehen haben sollte bevor man starb. Außer in Kletterführern gab es keine Wegbeschreibung. Die so genannte Straße ließ das Fahren allerhöchstens in Schritttempo zu, manchmal ließen gelangweilte und stoische Kuhherden minutenlang überhaupt kein Vorankommen zu. Irgendwann hatte sich mal eine Schar von Touristen hierhin verirrt, die auf der Suche nach dem Sandstrand von Capo San Vito die falsche Richtung genommen hatten…sie waren regelrecht geschockt, als sie an der Cala ankamen, einer der schönsten Orte der Welt, aber ein verdammt langer Zugang, keine Strandbar in der Nähe und Felsen und Kies, statt feiner zwischen den Zehen rinnender Sand. Heute Abend war die Bucht spärlich besucht. Ein Pärchen, das auf einem Felsplateau in den Strahlen der Abendsonne ein Sonnenbad nahm, und dessen Nabelpiercings in der Sonne funkelten, ansonsten nur sie beide. Schön. „Sag mal“, fragte sie, „hast Du vorhin die Flasche schon kaltgestellt?“ In der Bucht befanden sich alle möglichen kleinen Felsnischen, in denen man Flaschen zum Kühlen deponieren konnte wie in einem Weinkühler. Er konnte sich aber nicht daran erinnern die Flasche aus dem Rucksack genommen zu haben, und er ertastete die Weinflasche im Rucksack von außen. „Ich war´s nicht. Vielleicht haben die Beiden die hier vergessen.“ „Soll ich mal fragen?“ „Hm…zu dem Felsplateau kommt man nur schwimmend, oder Du musst rufen und wir wollen doch nicht die Ruhe der beiden stören. Lass mich mal sehen was ist das denn für…“ Er zögerte. „Was ist denn?“ „Das ist kein Wein der gekühlt wird. Da sind Paperbögen drin. Das ist ne Flaschenpost.“ „Na mach auf!“ „Alt kann sie nicht sein, ist n Schraubverschluss. Bestimmt nur n Scherz.“ „Ich bin trotzdem neugierig.“ Er öffnete die Flasche, stülpte sie kopfunter und – wie bei einer Ketchupflasche – musste er durch Klopfen auf den Flaschenboden nachhelfen bis der Inhalt kam. Er entrollte den Bogen. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen zu lesen: „Glaubt Ihr wirklich dass Ihr am Strand sitzt während Ihr das lest“? In dieser Nacht zog sich das Meer weit, weit vom Ufer zurück. Nicht einmal die Möwen hatten die Erschütterung gespürt und dösten weiter. „Cheri`s Gesicht erinnert ihn an `Der Schrei` von Edvard Munch mit einer blonden Perücke. So erlebt er sie als sie ihm im Absud eine Szene macht. Was er sich einbilden würde, dass sie mit ihm nach Sizilien reise damit er herausfinden kann was er will? Dann huscht sie aus dem Biergarten mit einer geisterhaften Bewegung, die biomechanisch nicht zu erklären ist. Paranormal Activity. Sein Gesicht ist bedeckt von einem dünnen, leicht brennenden Film. Er wünscht sich vor einem Spiegel zu stehen, mentholhaltiges Rasiergel auf der Haut, das die sonnenverbrannte Haut angenehm kühlt, dabei hat im Urlaub hat er nie welches dabei. Stattdessen sieht er durch diesen anderen Film ungebetene Bilder. Die Zeitung, die zwischen dem Ziergitter und der Haustür klemmt als er seine Eltern das letzte Mal besucht. Die Stille und Dunkelheit beim Betreten des Hauses, das Ticken einer Uhr als er unentschlossen im Erdgeschoss stehen bleibt weil er weiß: Deine Eltern sind nicht verreist, seine Hand auf dem Treppengeländer wie ein Spuk aus der Tiefsee, der ihm vorankrabbelt, die angelehnte Tür zum Schlafzimmer im ersten Stock, die Blitzlichtaufnahme eines Tatorts die grell in seinem Kopf aufscheint, der unerträglich lang anhaltende luzide Moment nach Abklingen der Blendung, die verlogene Kitschpostkarte morbider Eintracht auf dem Bett, wie eine Bewerbung für die Aufnahme in den Katakomben von Palermo…abends fuhr er direkt mit dem Taxi ins Absud, produzierte Bieroglyphen auf Papierrosetten, Schnappschüsse aus dem Trinkerasyl, wie die von dem Wirt, der in seiner Bar feiert die tausendste Frau gevögelt zu haben und total angepisst ist als seine Begleitung trötet, gar nicht wahr, mich hast Du dreimal gezählt, oder die von den finnischen Stahlarbeitern die am fünften Tag in Folge schweigend am Tresen sitzen bis einer aufsteht und proklamiert: wir sind nicht hier um uns zu amüsieren. Vom besoffenen Kickboxer, der sich stundenlang auf dem Klo einschließt weil er seinen Blick nicht vom Anblick des Türstoppers an der Kabinenwand lösen kann auf dem Bummsinchen steht. Seine Aura von Tragik ist so stark dass Cheri sich angezogen fühlt. Sie holt ihn heraus aus dem von imaginären Speckkäfern befallenen Drecksloch, das er seine Stammkneipe nennt. Cheri`s Auto ist vollklimatisiert und sie finden in einem heißen, stickigen Sommer Idyllen an den Wasserstraßen zwischen den Städten. Noch unterdrückt der Schock seine Träume von einer Frau, die von Angst, Ekel und Organentnahmen entstellt auf einen Mann einprügelt, der nicht aufhört zu flüstern und ein Dritter ist da, der nicht eingreift. Sie tanzen auf einer Dachterrasse umeinander herum, weil er die Kamera ist, die sich um sie dreht, der Beobachter, der den beobachteten Gegenstand schafft und zum posthumen Elternmörder avanciert. Dass nicht der Tod das Gegenteil des Lebens ist sondern das was nicht totzukriegen ist, jetzt weiß er wie das gemeint ist. Es ist der Moment in dem er sie zurückstößt, sie abprallen lässt, und damit ein Gemäuer um sie herum errichtet von dem sie geglaubt hat sie habe die Monade durchbrochen in deren fensterloser Gefangenschaft ihr Gefühl für sich selbst verhungert ist. Es ist der Abend vor ihrer Abreise nach Sizilien, sie prallt so heftig zurück, dass sie noch einmal zurückkehrt um die Mauer zu zerschimpfen, die er aufgebaut hat. Aber sein Gesichtsausdruck ist stumpf wie eine Gummiwand, zu elastisch um sie zu zerschlagen. Als sie sich in der Nacht aufgelöst hat wie ein Trugbild hockt er da und schreibt einen Brief, an sie beide, die meinen, sie lesen eine Flaschenpost auf Sizilien, an der Cala Mancina, und er hofft, dass sie zu Hause schlaflos ist und einen Brief an sie beide schreibt, dessen letzter Gedanke und letzte Formulierung nicht lauten wird: Räche sich wer kann, sondern Komm, lass uns fliegen.“