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Brauen

“…sind sie zusammengewachsen bedeutet es Satan, gelingt es bedeutet es teuflisch gutes Bier…” In seiner Stammkneipe hatten sie ihn Elf genannt. Den Namen trug er wie einen Ehrentitel, mit der Selbstironie eines Narren, der darum weiß dass sein Name Spott und Anerkennung zugleich bedeutet. Er fand seinen Spitznamen spitze, ebenso wie seine Ohren. Im übertragenen und buchstäblichen Sinn. Eine einfache, elegante Weltformel für sein Ich. Das Interesse an Fußball. Seine notorischen Terry-Pratchett-Zitate.Die Vorliebe für Parallelwelpen, signifikante Doppel- deutigkeiten, die Symbiose von Körper- und Scheibenwelten. Erbrecht als Aufforderung und als juristisches sujet. Überdacht als nicht nass werden bei Regen und gut geplant, “…wobei man auch unter einer Plane trocken bleibt”. Natürlich wußte er dass er mit sich selbst redete. Mit wem sonst? Da war niemand der ein solches Verhalten merkwürdig finden konnte. Das Nachtleben war zerstört, eine soziale Ödnis, lediglich bevölkert durch die Zombies der Systemgastronomie, die der menschlichen Sprache nicht mächtig waren, nur ein paar Grunzlaute herausbrachten, mit denen sie alkoholfreies Bier und Milchkaffee bestellen konnten. Auch wenn er es nicht glauben wollte und nicht fassen konnte: so wie es aussah war Elf der letzte Stammgast. Lebende Legende. Die Ähnlichkeit der Begriffe hätte ihm vormals gefallen. Nun empfand er die annährende Homonymie als beklemmend, drückte sie die Isolation eines Wesens aus, das in Ermangelung eines Soziotops dauerhaft und ohne eine andere Perspektive der Zweisamkeit als die Schizophrenie auf sich selbst zurückgeworfen blieb. Dazu noch die Zombies der Systemgastronomie die ihm nachstellten, ihn zu einem der ihren machen wollten. Die Nacht bot keinen Schutz. Die Mitternachtssonnen der Kettenfilialen, die nach dem großen Rauchverbot florierten, leuchteten jeden finsteren Winkel aus, in den sich die Abstinenzverweigerer verkriechen konnten. Wenn es noch andere Überlebende gab, dann war Elf ihnen noch nicht begegnet. Aufgrund ihrer grundsätzlichen Lethargie fürchtete er das Schlimmste. Zwar waren einige dazu in der Lage betrunken eine Kneipenschlägerei anzuzetteln, aber wohl kaum einer war zu organisiertem Widerstand fähig, geschweige denn dass er über genügend Willensstärke und Entschlossenheit für Militanz verfügte. Während Elf sein Sturmgewehr lud, eine Dönninghaus 18/48, redete er abwechselnd auf sich ein und provozierte imaginäre Gegner: “…was hast Du denn gedacht, dass Deine Arbeit zu Sypersymmetrie und Palindromen eine zweite Erde hervorbringt auf der das Rauchen noch erlaubt ist, ihr könnt ruhig näher kommen, kann euch zwar nicht kalt machen, aber Feuer unter den morschen Ärschen, früher, Sammy Kolon, sprachst Du ohne Punkt und Komma, sieh Dich jetzt an, frisst hirnamputiert paradontosefarbenen Lachs in Dich hinein und sehnst Dich nach einem Heizpilz, um den Du mit anderen Nikophilen herumlungern kannst, ihr werdet mich nicht kriegen und wenn sich meine Ängste noch so lustig über mich machen…” Sammy Kolon. Er war der erste zum Zombie mutierte ehemalige Stammgast den er erlöste. Becks Benny hatte ihm diesen Spitznamen verpasst, weil der ohne Unterlass vor sich hin schwadronierte. Wie eigentlich jeder im Absud, selbst dann wenn den Säufern die Konsonanten ausgingen. Man redete zu eingebildeten Zuhörern, die auf Atempausen lauschten, in die sie ihren eigenen Monolog zwängen konnten. So war das Nachtleben schön und aufgrund ständigen weit aneinander Vorbeiredens konfliktfrei. Elf trieb es die Tränen in die Augen als er Sammy aus dem `Neville` kommen sah, einem dieser Convenience-Läden die über die Zentren der Städte gekommen waren wie eine Epidemie, die dem urbanen Leben von innen den Garaus machte. Eine Matrix aus simplen Algorithmen, geträumt von wohlerzogenen Klassenbesten einer von grünen MdBs geführten Waldorf-Schule, programmierte das kulturelle und kulinarische Angebot ebenso wie das Konsumverhalten und Benehmen der Gäste, seitdem war Feierabend mit der Nachterbahn, die nunmehr bevölkert war von gleichgeschalteten Schattengestalten mit bleichem Teint und bleichen Gedanken, geistige Ghoule, die für vegane Ernährung sympathisierten, sich für die Entwicklung des neuen Pontifikats interessierten und ihre traditionellen Süchte gegen den Stumpfsinn der App-Hängigkeit getauscht hatten. Die Entwicklung hatte schon lange vor dem großspurig “Unabhängigkeitstag” titulierten Stichtag begonnen, an dem Shisha und elektrische Rauchwaren ebenso aus der Gastronomie verbannt wurden wie Zigarettenautomaten und Peter Stuyvesant. Die Wirte der Szeneläden, in denen es duftete wie im Inneren eines lang abgehangenen Räucherschinkens, bereiteten sich auf verschiedene Weise auf das nicht mehr zu Vermeidende vor. Einige zogen es vor dampfend mit ihren Läden unter zu gehen und so lange die Aschenbecher kreisen zu lassen, bis die Schwadrone der Ordnungsämter ihre Butzen samt unbeugsamen Gästen und Mundschenk luftdicht versiegelten. Kurzlebige Heldenlegenden erzählten von Stammgästen und Wirten, die bei einer ultimativen Bundesliga- Konferenz, versammelt um die Tafelrunde unterm Wappen des Phrasenschweins, die letzten Fluppen rauchten und erst erstickten, als kein Sauerstoff mehr da war, der die Glut der Menthol-Zigarette fütterte, aber diese Mythen verzerrten die Wirklichkeit. Der überwiegende Teil der Wirte war ein Haufen von Opportunisten, für den paradiesisch und parasitär etwa dasselbe bedeuteten, und nachdem klar war, dass keine Sonderbestimmungen für Clubs oder geschlossene Gesellschaften mehr Nischen liessen, durch die man sich an der Diktatur der Krankenkassen vorbei mogeln konnte, florierten in sozialen Netzwerken ebenso wie altmodisch-plakativ an Baumstämmen und den Echsenhälsen der Strassen- laternen Steckbriefe, die Stammgäste zur Versteigerung feilboten. “Biete Skellington Stammgast Absud Rekorddeckel: 512 € / Monat Zahlung: regelmäßig Monatsdurchschnittsumsatz: 1011 € Konsumfrequenz: täglich Bevorzugtes Getränk: Pils Liquidität: sicher (mit Beamtin verheiratet)” Charakter: lautstark, aber ungefährlich” Rasch wandelten sich die Steckbriefe in vermögenswirksame Pfandbriefe, Zertifikate, Wertpapiere, Spekulationsobjekte auf einem virtuellen `Blaumarkt`, an denen Volkswirte ebenso wie Betriebswirte richtig Spaß hatten, die wie früher Schüler auf den Vierersitzen eines Schulbusses mit den Profilen Quartett spielten: “Durchschnittlicher Promillegehalt pro Abend: 2,2% stach.” “Höchstkonsum/Abend: 6 Liter Hefeweizen stach.” Die überwiegende Zahl der Gäste spielte mit. Es änderte sich ja nichts daran, dass kaum einer von ihnen es abends in einer Wohnung aushielt. Die Renitenz war eine lediglich habituelle ohne Substanz, ein Aufbegehren gegen Bevormundung, das man sich auch im `Neville` erlauben konnte, solange der Tonfall gedämpft blieb, man zum Rauchen vor die Tür ging und die Kundschaft der Sprache der Nachtmenschen noch mächtig war. “Gute Nachrichten sind was fürn Arsch, ich entscheide nicht mehr zwischen Fernweh und Erinnerung, oder zwischen Vertreter und Fairtrader, Ihr Blödwürste könnt mir nicht weh tun, ich pinkel ohnehin schon Eckzähne, meine Organe arbeiten auf Sparflamme, damit ihr mich nicht erkennen könnt unterscheide ich mich nicht, ob Schiedsgericht oder Schiitsgesicht, die Wirte sind die wahren Parasiten, ich weiß dass ihr mich wie einen Besenbinder am langen string halten wollt, das löst Algerien aus, die suchen Irisgleichen, dagegen habe ich nur meinen mittelscharfen Verstand, wen das juckt, das werden wir ja sehen wehen das abkratzt…” Elf war sich nicht sicher, ob nicht auch für ihn präventiver Suizid die beste Lösung war. Vielleicht war er längst einer von ihnen. Die Verblödung erfolgte sukzessive, am Anfang waren die Unterschiede so wenig definiert wie der exakte zeitliche Beginn einer Demenz. Sammy erkannte ihn jedenfalls sofort, ein Gesichtsausdruck der freudig und peinlich berührt zugleich war, er schämte sich vor seinen Jever-light-Kumpanen dass er Elf kannte und schämte sich Elf gegenüber wegen seiner Abtrünnigkeit. In Sammys Augen bemerkte Elf den Spiegelreflex von Schmacht und Sehnsucht, ein Aufflackern der Gier nach dem selbstzerstörerischen Verhalten, dass man Leben nennt. “Hey Elf, ist jammerschade dass man sich nicht mehr so häufig über den Haufen rennt, hähä, aber besser selten als nie.” Im Zeitraffer Erinnerungen an die Zeit im Absud. Der schnellste Gast. Kam rein, bestellte ein Bier, versuchte sein Feuerzeug an der Flamme einer Kerze zu entzünden, als das nicht funktionierte zahlte er, ließ das Bier stehen und verschwand. Der Koch, der Lachs und Lauch verwechselte und einem Gast Tagliatelle mit Lachs und Speck servierte, die der Gast begeistert verdrückte. Bärlachstagliatelle. Lauchfischen im Jemen. Schon-von- den-Toten, der Wirt, der lieber ein dressiertes Äffchen als Koch gehabt hätte, worauf er wahlweise aus Gründen des Tierschutzes verzichtete oder weil er die Äffchen aufgrund von Versorgungsengpässen zu Chili verarbeitete. Der Kellner, der zu 120% seinen Verdienst im Absud versoff. Der Mann mit Prinzipien der verkündet: Analog ist das neue Digital. Der Koch der jahrelang im Hinterzimmer des Absud wohnte, nachts im Pyjama und Pantoffeln in Gestalt dreiäugiger Fische in den Schankraum schlurfte, sich unter den verblüfften Blicken der Gäste fluchend einen Espresso zubereitete und schlürfend wieder im Hinterzimmer verschwand. Der Rentner und das Skelett, die im Biergarten mit prall gefüllten Wertstoffsäcken aufeinander einprügelten (das Entsorgungsunternehmen hatte Abholtermine nicht eingehalten). Die geteilte Melancholie gescheiterter Lebensentwürfe, der Pilot, der nun Call-Center-Agent ist, immer noch mit headset, aber am Boden zerstört, wenn auch nicht ohne Hoffnung irgendwann wieder abheben zu können, die Vorzüge seines Lebens im Zeitraffer wären immer noch ein Film in Zeitlupe…Kriechenland. Auf einem Dachfirst sieht eine Taube einem Flugzeug hinterher…in Sammys verlassener und dunkler Wohnung leuchten blau und rot die Positionslichter des elektronischen Equipments, als Elf ihm einige hundert Meter entfernt eine Kugel in die Stirn jagt, eine Teleskoppatrone, subversiv entwickelt von einigen Freidenkern des “Bochumer Vereins” zu Zeiten, als man sich noch mehr um die Integration von Lernbehinderten, als um Hochbegabte und Hochbetagte kümmerte. Die Gewissensbisse brachten ihn beinahe um, aber der dem er die Birne weggepustet hatte…das war nicht Sammy; das war überhaupt kein Mensch, weil ein Mensch ohne Nachtleben keiner ist, sondern ein Zombie, weil alle Zombies obendrein reaktionäre Missionare sind. Die Macht der leitenden Reichen. Machtstreben erstickt Nachtleben. Aus Elfs Steckbrief: “Extrem kreditwürdig. Versäuft sein gesamtes Erbe. Charakter: Nervensäge. Aber wer den kriegt, ist ökonomisch mit der Sache durch.” Sie wollten ihn töten, indem sie ihn domestizierten. Er musste ihre Grunzlaute nicht verstehen um zu wissen was gemeint war. Sei einer von uns. Sei nicht mehr einsam. Zu tausenden hatte er sie umgenietet auf seinen Streifzügen durch menschenleere Nächte, in denen er sich manchmal nach Junggesellenabschieden sehnte, deren Hirnlosigkeit wenigstens ohne gegrunzte Besserwisserei und ohne doktrinäre Gesundheitsfixierung auskam. Tag für Tag sah er sie unbeschadet wieder, auf den Wochenmärkten wo sie Zucchini und Auberginen für ein Ratatouille besorgten, beim Bäcker wo sie Biobrot mit Walnüssen und Dinkel bestellten, im Cafe, wo ihn ihre Blicke auf seinem Weg zur Toilette begleiteten, wo er im Scheißhaus eine Zigarette rauchte. “…sei einer von uns…”, raunten ihre Blicke ihm zu…oder redet sich Elf das nur ein? In seiner Manteltasche ein Bierdeckel. Dr. Strothmann hatte ihm den am letzten Schwadenabend in die Hand gedrückt. Eine Bieroglyphe, Elf wußte was draufstand und hätte den Deckel wegwerfen können. Aber er hielt sich daran fest, knetete ihn, klammerte sich an ihn als sei es ein magischer Spickzettel. `Dein Dealer kann Dir helfen mit dem Rauchen anzufangen. Entwickle ein Serum.` Elf rührt seinen Kaffee um, obwohl sich darin weder Milch, noch Zucker befinden. Tagsüber verhält er sich weitgehend unauffällig, konsultiert regelmäßig sein iphone auf der Suche nach Widerstandsnestern. Eine Marotte die er mit den Spitzeln des Ordnungsamtes teilt. Keine Spur vom Untergrund, das beruhigt ihn. Er sehnt sich zwar nach den Nächten, in denen er nicht vor der üblen Wahl stand entweder bewaffneter Kampf oder die Einzelhaft seines behaarten Zuhauses (er hatte den Fehler begangen die Hundedecke seiner Ex in der Waschmaschine zu waschen, seitdem haarte die komplette Bude und weil die Haare in seinen Klamotten hingen war der Juckreiz an schwer zugänglichen Körperpartien kaum auszuhalten), aber die Spurlosigkeit gibt ihm Hoffnung, dass irgendwo noch eine gefährliche Heimat existieren könnte in der er sich unzensiert zu Tode rauchen und saufen kann. Sie kann bedeuten, dass alles verloren ist, sie kann bedeuten, dass die Tarnung exzellent ist. “…ich hätte die Box mit der Katze niemals geöffnet…” Vor ihm der Lokalteil der Tageszeitung. WAZ UP? Einem Bericht über den faszinierenden, abgründigen Lebenswandel eines Künstlers mit verschiedenfarbigen Augen und unzähligen Exzessen folgen seitenweise Empfehlungen für normale Menschen. Vernünftige Ernährung, Krebsvorssorge, Diabetesprophylaxe. Fitness senkt den Krankenstand, die Lebenserwartung steigt im Gleichschritt mit der Depressionsrate, der Produktivität im Niedriglohnsektor, und der Quote von Selbstmordversuchen unter Leistungssportlern. Die Zigarettenreklame kämpft einen einsamen Kampf für die gute Sache: `Wer nicht raucht ist feige`, `Vielleicht schreibt nie ein gutes Lied`. No risk, no fun, no profit. Es hilft nix, er muss los, zu spätes Log-in kostet ihn einen kompletten Stundenlohn. Wischt sich Remoulade aus den Mundwinkeln. Faltet die Zeitung zusammen. Schiebt das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr in die dafür vorgesehene Lade. Er verabschiedet sich (”tüss”) von der Chefin der Bäckerei, die in der offenen Schiebetür zur Fußgängerpassage zwischen ihrer Franchise-Filiale und einem geschlossenen Kiosk eine Attika pafft und Tauben vertreibt. Kusch. Kusch. Drängelt sich an einer Kundin vorbei, die einen Kaffee to go bestellt: “Kaffee to go nur in groß” wird ihr energisch beschieden. Singt leise, aber inbrünstig: “weil ich ein Brö-ö-ö-tchen bin.” Gleich ist Schichtbeginn im Omega-Telefonstudio. Nette, kundenorientierte KollegInnen, denen er Nacht für Nacht die Birne wegpustet und die ihn am nächsten Morgen mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit willkommen heißen: na? harte Nacht gehabt? Er hat nicht daneben gezielt, ist ne Sysiphos-Drecksarbeit. Prämie pro Nettokontakt. Freiberuflich. Er hasst es dorthin zu gehen. Die Zigarettenpreise sind seit dem “Unabhängigkeitstag” um 40% gestiegen, die ersten Banner “kauft nicht bei Tabakhändlern” prangen an den Schaufenstern der Trinkhallen. Soon, Yes, soon… “Beseitigen Sie bitte diesen Bildschirmschoner.” Eine Teamleiterin, rote Zöpfe, ein T-Shirt mit dem Aufdruck “LinkSerum EchtSerum” lächelt ihn unmissverständlich an. Er hat sie mehrfach auf dem Gewissen und gehorcht.