Barsitzfunktionen
Als stünde eine als Schnitzeljagd in die Vergangenheit getarnte Fahndung an
sind leere Flächen im Visier der Gäste am Tresen mit Schnapsschüssen dekoriert,
Momentporträts von Kellnern, Köchen und Wirt. Auf der Nie-Roster-Rückseite
der Zapfanlage sind sie aufgeklebt, auf den Regalen hinter dem Tresen aufgestellt,
angelehnt an Flaschen und umgestülpte Tulpen. Die grellen Blitzlichtphotos, die Gesichter
aufleuchten lassen wie einen phosphoreszierenden Bastard aus Fluch und Schrein in der
Finsternis einer Pyramide, verleihen der Illusion starrsinnige Konstanz, der porträtierte
Mensch sei freundlich, geheimnisvoll, ein guter Spuk, der auch im Vorspann zu How I
met Your Mother zu sehen sei. Die Photos sind Stellvertreter des durch Abwesenheit
glänzenden Personals, das sich händchenhaltend und busserlnd auf den Treppenabsatz
zurück zieht. Leere Gläser mit verkrusteten Schaumreliefs an den Innenrändern führen
den Gästen drastisch vor glasige Augen, das sie die mit Abstand unwichtigsten Personen der
Welt sind. Man macht sich nicht mehr die Mühe, durch Anwesenheit den Anschein von
Aufmerksamkeit zu wecken, und selbst der loyale Kai Piranha blickt betröppelt durch die
optische Schneise seines Pferdeponys auf das Bermudadreieck seines Absinthglases,
das lediglich mit ein paar abgebrannten Streichhölzern gefüllt ist, die er aus Langeweile
und im stillen Protest hinein geschnippt hat. Er empfindet eine zartbittere Scham darüber,
dass er obschon absolut ignoriert immer noch lieber hier ist als nicht hier. Seit Kanada
säuft er nur nach Mitternacht, er will Tabea Rasa zeigen, dass auch er sich ändern kann.
Jetzt, da keine Beziehung mehr droht, kann er die Trauer über deren Nichtzustande-
kommen endlich ausleben und zugleich selbstverleugnerischen Altruismus an die
Nacht legen: Ich werde hier sein, im Neonschein und im Schatten Deiner Ignoranz.
Kai meidet den Anblick seines eigenen Porträts, nicht nur, aber auch weil
ein Freund LLoyds namens Cordalis gestern hier rein gestiefelt war und spontan
Kais Abbild mit den Worten kommentierte: Das ist eindeutig das Gesicht eines
Leberkranken. Das Bild bereitet ihm Unbehagen, doch solange er nicht hinsieht
könnte es ja nicht da sein. Er hat mal gelesen, das Licht keine Ruhemasse hat.
Was aber ist, wenn man es einfriert, es zum Stillstand bringt, es beispielsweise
einfängt in einem Glas Absinth? Wenn man sein eigenes Licht unter den Chef
stellt? Gefangenschaft erzeugt Unruhe, Unruhe schafft Massen in Aufruhr, die
gegen ihr Eingesperrtsein rebellieren. Deswegen sollte man sich von Selbstporträts
fernhalten, ihre eingeschlossene Energie wird den Rahmen sprengen und das
Bild wird sein Motiv zerstrahlen. Obwohl…vielleicht trifft die egozentrische
Strahlung exakt den Tumor, genau wie die Pistolenkugel in Adams Äpfel den Pfarrer
von seiner tödlichen Krankheit kuriert, indem sie exakt den befallenen Teil des
Gehirns wegbläst…
Nur noch ein paar versprengte Gäste bevölkern das Absud, einsam und so weit
voneinander entfernt wie Planeten zwischen verschiedenen Galaxien…
Zwei leere Sitze weiter führt Strothmann ein Selbstgespräch und gerät dabei in Streit
mit sich, Kai hört nicht hin, bekommt nur ein paar Wortfetzen mit, versteht so
etwas wie “Allzugemeine Rivalitätstheorie”, was ihn leicht schmunzeln lässt…
…an einem der hinteren Tische juchzt lautstark eine Germanistin, schrill und
laut wie ein Welpe, der noch nicht zwischen der Zuneigung und dem Sadismus
seines Frauchens oder Herrchens unterscheiden kann…das scheint ein Signal für
die ganze Gruppe zu sein sich zu erheben und einmütig wie gemeinsam
schwingende Atome vor die Tür zu strömen. Kai folgt der Bewegung, erst nur
indem er den Kopf dreht, dann indem er aufsteht um auch eine zu qualmen.
Er versteht die Welt nicht mehr, als die jungen Leute - das hab ich jetzt tatsächlich
gedacht? fragt er sich entsetzt - sich vor der Treppe auf dem Pflaster zu einem
Sit-in niederlassen und darüber debattieren, wie man den Konflikt zwischen
Rauchern und Nichtrauchern in der Gruppe, der sich an der Wahl der Kneipen
entzündet, erfolgreich moderieren kann.
…zwei Ab-und-richtig-zu-Gäste aus der Nachbarschaft kreuzen den Weg, schlängeln
sich an Nachwuchsgästen vorbei. An einem Miniaturgeschirr führen sie eine
ausgewachsene Ratte hinter sich her, die sich bei genauem Hinsehen als Hundebaby
entpuppt, eine winzigkleine französische Bulldogge, die gleichwohl schon über
den breitbeinigen Gang eines bis zur Halskrause gedopeten Sprinters verfügt…
…tief im Biergarten an den Grenzen der Reichweite des Lichts das zu einer
leisen Silhoutte verschmolzene Glamour-Paar, dessen Doppelköpfigkeit von
Kais Warte aus nur am synchronisierten Puls der Glut zweier Zigaretten
indirekt zu erkennen ist…
Kai schlurft zurück an den Tresen und sagt zu sich: “Jetzt reichts”.
Zeit den Absinthlöffel abzugeben. Zwar revidiert er diesen Entschluss erneut
und erneut, aber die Perioden zwischen Entschluss, Revision, Entschluss
und erneuter Revision werden kürzer, so dass irgendwann in absehbarer
Zukunft eine Entscheidung fällt. Man könnte den Limes berechnen, wenn
man könnte.
“Das ist kompletter Murks”, herrscht nebenan Strothmann, gnadenlos euphorisiert
ob des Umstandes jemanden zum Anblaffen gefunden zu haben, den
reüssierenden Schachmaaten an, der sich zu einem Sonntag- und Diensttag-Nacht-
Stammi gemausert hat, “Schrödinger bezog sich mit seinem Vergleich genau nicht
auf das Verhalten mikroskopischer Körper.”
“Wie soll ich denn mit Dir argumentieren”, wehrt sich der Schachmaat, “wenn
Du ständig Analogien und Indizien velwechserst? Unübahaut. Wat weißt Du
schon von Nutten in Leipzig?” (Wenn Promille größer als 1,6, dann Jandln
gleich Lallen).
Kai kennt die Lösung des Paradoxons: Kommt mir gar nicht erst in die Kiste.
Er ist stolz darauf, dass er sich diese Nacht an diesen Vorsatz hält.